Die Vermessung des globalen Artensterbens

Die Vermessung des globalen Artensterbens

Der globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES zeichnet ein dramatisches Bild zur Lage der biologischen Vielfalt auf der Erde und fordert einen tiefgreifenden Wandel.

Korallenriffe sind der Lebensraum für viele Tiere. Doch sie werden immer weniger.

Wie hat sich die Biodiversität in den vergangenen Jahrzehnten verändert, was sind die Ursachen und wie kann der Verlust der Artenvielfalt gestoppt werden? In dem ersten globalen Zustandsbericht zur Artenvielfalt liefert der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) Antworten. Das rund 1.500 Seiten umfassende „Global Assessment“ wurde am 6. Mai in Paris der internationalen Öffentlichkeit vorgestellt. 145 Leitautoren aus 51 Ländern, darunter sieben Wissenschaftler aus Deutschland, waren daran beteiligt. 15.000 Studien zur Entwicklung in der Tier- und Pflanzenwelt wurden in den vergangenen drei Jahren zusammengetragen, analysiert und durch Kommentare ergänzt. Erstmals wurde auch das Wissen indigener Völker einbezogen.

Die sieben deutschen Leitautoren arbeiten jeweils an Forschungsinstituten der Helmholtz-Gemeinschaft oder der Leibniz-Gemeinschaft. Vier davon stellten sich am 7. Mai in Berlin den Fragen der Journalisten, gaben Einblicke in den Verhandlungsmarathon der IPBES-Vollversammlung in Paris und in die Ergebnisse des IPBES-Berichtes. „Das war eine erstaunlich positive und konstruktive Atmosphäre in Paris“, berichtet Josef Settele. Der Forscher ist Agrarwissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und war einer der drei Co-Vorsitzenden des „Global Assessment“. Seine Arbeit wurde unter anderem durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das Bundesumweltministerium unterstützt.

Vertreter aus 132 Mitgliedstaaten, darunter aus den USA, hatten über den Wortlaut des Berichts eine Woche lang debattiert und schließlich abgestimmt. „Die Staatengemeinschaft konnte sich auf einen guten Konsens einigen. Nichts ist wirklich rausgeflogen“, ergänzt Ralf Seppelt vom UFZ und Leitautor des Kapitels „Szenarien und Wege in eine nachhaltige Zukunft“.

Eine Million Arten vom Aussterben bedroht

Der IPBES-Bericht beschreibt erstmals umfassend, in welchem Zustand sich die Ökosysteme an Land und im Meer befinden und wie sich die Artenvielfalt seit 2005 verändert hat. Die Fakten sind alarmierend. Ob an Land, im Wasser oder in der Luft: Die Zahl der Tier- und Pflanzenarten nimmt weltweit dramatisch ab. Noch nie war das Artensterben so hoch wie heute. Etwa eine Million der derzeit bekannten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten ist im Laufe der nächsten Jahre vom Aussterben bedroht, wenn, so die Autoren, der Mensch seine Lebensweise nicht ändert. „Wir dürfen den Ast nicht absägen, auf dem wir sitzen. Das müssen wir den Menschen klar machen“, sagte Meeresökologe Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut und Leitautor des Kapitels „Status und Trends in der Natur“.

Die Fakten: 66% der Meere wurden von Menschen verändert. 50% der Korallenriffe sind in den vergangenen 150 Jahren verschwunden. Durch die Zerstörung von Küstengebieten wie Mangrovenwäldern ist die Lebensgrundlage von bis zu 300 Millionen Menschen gefährdet. Von Überfischung sind 33% aller Fischpopulationen betroffen, wodurch die Nahrungsgrundlage vieler Menschen bedroht ist. „Wir müssen es schaffen, das Meer nachhaltiger zu nutzen“, so Gutt.  „Aber die Nutzung muss so gestaltet werden, dass die Ökosysteme erhalten bleiben und auch nachfolgende Generationen versorgen können.“ Der Ausbau von Schutzgebieten oder Fangquoten wären hier geeignete Maßnahmen.

IPBES: Globaler Zustandsbericht zur Artenvielfalt

IPBES Global Assessment Summary for Policymakers (EN): PDF-Link

Faktenblatt/Auszüge des Berichts von der Helmholtz-Gemeinschaft (DE): PDF-Link 

Fast ein Viertel aller Landflächen unbrauchbar

Ähnlich groß ist der Artenverlust an Land: 85% aller Feuchtgebiete sind bereits zerstört. 100 Millionen Hektar tropischer Regenwald wurden zwischen 1980 und 2000 abgeholzt, weitere 32 Millionen Hektar allein zwischen 2010 und 2015. Inzwischen sind 23% aller Landflächen weltweit ökologisch ausgelaugt und können nicht mehr genutzt werden. Außerdem wird die Nahrungsmittelproduktion durch den steigenden Verlust an Bestäuberinsekten bedroht. Die Verluste werden auf bis zu 577 Mrd. US-Dollar geschätzt. Zu den vom Aussterben bedrohten Tieren gehören vor allem Amphibien und Vögel, aber auch Säugetiere, Reptilien und Fische.

Mehr als ein Drittel der Landoberfläche und fast 75% der Süßwasserressourcen werden derzeit für die Pflanzen- oder Viehproduktion genutzt. Die Pflanzenproduktion ist dem Bericht zufolge seit 1970 um rund 300% gestiegen, die Holzproduktion um etwa 45%. „Jedes Jahr werden weltweit rund 60 Milliarden Tonnen erneuerbare und nicht erneuerbare Rohstoffe aus der Natur gewonnen – das entspricht nahezu einer Verdopplung seit 1980“, sagt Seppelt. „Wir stoßen hier allmählich an natürliche Grenzen des Machbaren.“

Doch was sind die Ursachen für den Artenverlust? Die Autoren stellen klar, dass der Verlust der Biodiversität nicht allein auf Umweltprobleme zurückzuführen ist, sondern auch durch Entwicklung, Wirtschaft, Politik und vor allem soziale Aspekte beeinflusst wird. Dennoch werden fünf wesentliche Treiber benannt: An erster Stelle steht die immer stärkere Nutzung von Festland und Meeren durch den Menschen. An zweiter Stelle die unmittelbare Nutzung bestimmter Organismen wie etwa die intensive Befischung von Kabeljau, an dritter der Klimawandel, an vierter Umweltverschmutzung und an fünfter Stelle invasive, gebietsfremde Arten. „Die immer stärkere Nutzung von Böden und Meeren, der Klimawandel und die Umweltverschmutzung sind menschengemacht und einige der wesentlichen Treiber des Artensterbens“, sagt Settele. Die Folge sei ein dramatischer Verlust der Artenvielfalt und damit auch der Leistungsfähigkeit der Ökosysteme wie etwa eine sichere Versorgung mit Nahrungsmitteln weltweit.

Transformativer Wandel nötig

Neben dem Ist-Zustand zeigt der Bericht aber auch Chancen für die Zukunft auf. Die Autoren sind überzeugt, dass trotz der dramatischen Entwicklung noch Zeit zum Gegensteuern bleibt. Ziel des Berichtes ist es auch, die 2015 von den Vereinten Nationen festgeschriebenen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals - SDGs) besser zu bewerten. „Der Trend ist bedrückend“, resümierte Landschaftsökologe Ralf Seppelt: „Die globalen Nachhaltigkeitsziele lassen sich nur durch einen transformativen Wandel erreichen. Klimawandel, Verschlechterung der Natur und gute Lebensqualität sind eng miteinander verbunden.“ „Es gibt Lösungen, aber da ist noch viel Luft nach oben“, ergänzte Meeresökologe Julian Gutt. Sein Fazit: „Es macht keinen Sinn, den Klimawandel zu bekämpfen und gleichzeitig die Meere leer zu fischen. Man muss die Nachhaltigkeitsziele kombinieren.“

Handlungsempfehlungen für die Politik

Doch wie kann die Natur künftig nachhaltiger genutzt werden? Neben nachhaltigem Produktions- und Konsumverhalten sind für die Autoren zwei Punkte entscheidend: Zum einen muss die Weltbevölkerung langsamer wachsen als bisher, andererseits der Fleischkonsum reduziert werden. Von Verboten halten die Autoren wenig. Sie wollen mit Fakten überzeugen. „Wir wollen das Thema Nachhaltigkeit in die Politik tragen, in dem wir die Konsequenzen des Handelns aufzeigen. Innerhalb der Regierungen müssen die Systeme miteinander kooperieren“, betont Settele. Ohne grundlegende Veränderungen in Wirtschaft, Technologie und Gesellschaft werde dieser Wandel nicht gelingen. „Besonders wichtig erscheint mir, dass die Menschen endlich verstehen, dass die Ressourcen wirklich begrenzt sind“, erklärt Almut Arneth vom Institut für Meteorologie und Klima am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Leitautorin des Kapitels „Zukünftige Szenarien“. „Einer allein wird aber nichts erreichen. Da sind die Konsumenten genauso gefragt wie die großen Wirtschaftsunternehmen oder Schulen“, so Arneth.

Der Weltbiodiversitätsrat hat mit den globalen Zustandsbericht eine Arbeitsgrundlage für die 2020 in China stattfindende Weltartenschutzkonferenz geschaffen. Die Autoren hoffen, dass auf Basis dieses Berichts ein für die internationale Staatengemeinschaft bindendes gemeinsames Artenschutzabkommen verabschiedet werden kann. 

bb