Pharma
Schon seit Jahrtausenden helfen Heilkräuter, Krankheiten zu lindern. Aber auch darüber hinaus bietet die Natur eine große Auswahl an Wirkstoffen, die die Basis für moderne Medikamente bilden. Zunehmend kommen biotechnologische Verfahren bei der Produktion von Medikamenten zum Einsatz. Diese Biopharmazeutika sind bei der Behandlung von Volkskrankheiten wie Krebs und Diabetes nicht mehr wegzudenken.
DATEN UND FAKTEN
Unternehmen: 886 (2016)
580 Pharma (Quelle: Statistisches Bundesamt)
306 medizinische Biotechnologie (Quelle: BIOCOM)
Mitarbeiter: 142.272 (2016)
Pharma: 130.902 (Quelle: BPI)
Medizinische Biotechnologie: 11.370 (Quelle: BIOCOM)
Umsatz: 41,6 Mrd. Euro (2016)
Pharma: 40,1 Mrd. Euro.902 (Quelle: BPI)
Medizinische Biotechnologie: 2,5 Mrd. Euro (Quelle: BIOCOM)
Beispiele aus der Bioökonomie:
Biopharmazeutika, Arzneipflanzen
Gerade mit Blick auf der Herstellung von Arzneimitteln greifen Pharmafirmen zunehmend auf biologisches Wissen zurück. Zwar bilden chemisch hergestellte Wirkstoffe nach wie vor den größten Marktanteil im deutschen Arzneimittelmarkt, aber die sogenannten Biopharmazeutika rücken zunehmend auf. Mit 11,4 Mrd. Euro liegt ihr Anteil derzeit bei 27,4% (vfa.bio) – Tendenz steigend. Diese Medikamente sind Biomoleküle, die so groß sind, dass sie chemisch nicht oder nur sehr aufwendig herzustellen wären: Antikörper gegen Krebs oder Autoimmun-krankheiten wie Multiple Sklerose, Hormone wie Insulin zur Behandlung von Diabetes oder Enzyme gegen Stoffwechselkrankheiten. Für ihre Herstellung bedient man sich der Methoden der modernen Biotechnologie, die in den 80er Jahren entwickelt wurden: Lebende Mikroorganismen oder Zellen lassen sich zu Mini-Fabriken für Medikamente umprogrammieren.
Die Entwicklung der Biopharmazeutika begann Ende der 70er Jahre. US-Forschern der Firma Genentech gelang es 1978 zum ersten Mal, die Erbinformation für das Hormon Insulin aus menschlichen Zellen zu isolieren und mittels Gentransfer in die Bakterienzellen zu übertragen. Zuvor konnten Patienten nur auf Insulin von Schweinen oder Rindern zurückgreifen. Das war in der industriellen Herstellung nicht nur aufwendig und teuer, sondern auch nicht für jeden Patienten gut verträglich. Schließlich wehrt sich der menschliche Körper gegen tierische Hormone genauso wie gegen Krankheitserreger. 1979 entwickelten Frankfurter Forscher am Pharma-Standort Hoechst ebenfalls ein biotechnologisches Verfahren, um menschliches Insulin mit Hilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen herzustellen. Im Jahr 1987 erhielt der Pharmakonzern Eli Lilly in Deutschland eine Zulassung für das nach dem Genentech-Prinzip entwickelte Humaninsulin. Es wurde damals in Straßburg produziert und nach Deutschland importiert. 1984 bemühte sich auch Hoechst um die Genehmigung seiner Versuchsanlage in Frankfurt, doch der hessische Umweltminister Joschka Fischer verweigerte seinerzeit die Betriebserlaubnis. Erst 1994 erhielt der Pharmakonzern die Genehmigung, 1996 wurde das entsprechende Humaninsulin zugelassen, 1998 konnte die biotechnologische Produktion offiziell in Betrieb genommen werden. Heute wäre eine ausreichende Versorgung der betroffenen Menschen ohne gentechnisch hergestelltes Insulin unmöglich.
Nach anfänglichen Bedenken werden heute gentechnisch hergestellte Medikamente für Menschen und Tiere allgemein akzeptiert. Inzwischen werden mehr als 300 in Deutschland verfügbare Arzneimittel auf diesem Wege produziert. 2018 wurden 38 weitere zugelassen (vfa), so viele wie noch nie. Neben dem Standort Frankfurt, der inzwischen zum französischen Unternehmen Sanofi gehört, hat sich auch der Schweizer Pharmakonzern Roche mit seinem Standort in Penzberg mit umfassenden Produktionskapazitäten für Biotech-Medikamente etabliert. Hinzukommen mit Bayer in Leverkusen, Merck in Darmstadt sowie Boehringer Ingelheim in Biberach, deutsche Unternehmen mit signifikanten Produktionsanlagen. Des Weiteren hat sich eine Reihe von kleineren und mittleren Biotechnologie-Unternehmen darauf spezialisiert, als Dienstleister die biobasierte Produktion zu übernehmen oder bei der Entwicklung und marktgerechten Umsetzung entsprechender Verfahren zu helfen.
Bei der Herstellung von Biopharmazeutika unterscheiden Experten zwischen dem Up-Stream und dem Down-Stream. Beim Up-Stream kommt es darauf an, ein biologisches Produktionssystem wie Mikroorganismen oder Säugetierzellen so maßzuschneidern, dass am Ende die gewünschten Eiweiße hergestellt werden. Dieser Prozess muss zudem so gestaltet sein, dass er im industriellen Maßstab in Fermentern mit einem Fassungsvermögen von 500 bis mehreren tausend Litern erfolgen kann. Im Down-Stream-Prozess wiederum müssen die Wirkstoffe so aufgereinigt werden, dass sie für einen therapeutischen Einsatz in Frage kommen: Schließlich entsteht durch die Mikroorganismen oder Säugetierzellen zunächst eine Art Brühe, in der neben den gewünschten Substanzen auch eine Vielzahl anderer Beiprodukte zu finden sind. Mittels mechanischer und thermischer Techniken wie Zentrifugation und Kristallation muss hierbei eine möglichst schnelle und saubere Aufreinigung erfolgen.
Vor allem eine bestimmte Klasse biotechnologisch hergestellter Arzneien ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den Fokus des Interesses gerückt: die Antikörper. Im menschlichen Körper produzieren einige weiße Blutkörperchen diese Moleküle. Sie gelten als die Spür- und Lenkwaffen des menschlichen Immunsystems, weil jeder von ihnen sich nur an ein ganz bestimmtes anderes Molekül heftet – das Oberflächenprotein eines Virus beispielsweise oder das Gift eines Bakteriums. Durch die Bindung machen die Antikörper ihr Zielmolekül unschädlich und bereiten dessen Abbau vor. Seit Mitte der siebziger Jahre wurden Verfahren entwickelt, mit denen sich menschliche Antikörper auch mit Hilfe von Zellkulturen herstellen lassen. Heutzutage sind die Immunmoleküle nicht nur ein unverzichtbares Werkzeug für die Medizin, sondern auch eine zunehmend wichtige Medikamentenklasse. Bei vielen Krankheiten wie Krebs oder Autoimmunkrankheiten helfen sie, die Krankheitsursache zu attackieren und nicht nur Symptome zu lindern. Vor allem die Bekämpfung von Krebs oder Autoimmunkrankheiten hat sich mit Antikörpern signifikant verbessert. Inzwischen gibt es mehr als zehn verschiedene zugelassene Antikörper-basierte Medikamente. Viele weitere sind in fortgeschrittenen Stadien der Entwicklung und viele neuartige Formen von Antikörper-Molekülen werden auch hierzulande erforscht, um ihre Wirkung noch zu verbessern. Aber auch andere Medikamentenklassen etwa Antibiotika und Impfstoffe werden heutzutage in der Regel auf biotechnologischem Wege hergestellt. Weltweit produzieren Pharma-Unternehmen jährlich etwa 4,7 Mrd. Impfstoffportionen (EVM). In Deutschland produzieren sie Impfstoffe gegen Grippe und Vogelgrippe, Frühsommer-Hirnhautentzündung (FSME), Diphtherie, Keuchhusten und Tollwut, zudem Adjuvantien für die Impfstoffproduktion weltweit. Die Produktionskapazitäten werden von den Unternehmen stetig ausgebaut: So hat der britische Konzern GlaxoSmithKline 100 Mio. Euro in die Grippeimpfstoffproduktion in Dresden investiert. In Marburg hat Novartis eine innovative Anlage zur Produktion von Grippeimpfstoffen sowie von Impfstoffen gegen FSME und Tollwut aufgebaut.
Inzwischen werden aber auch unkonventionelle Quellen als biologische Arzneihersteller genutzt. So sind zum Beispiel Pflanzen als Produzenten innovativer Wirkstoffe ins Blickfeld gerückt. Im Jahr 2012 hat die US-Zulassungsbehörde FDA ein in Karottenzellen produziertes Enzym zur Behandlung der Gaucher-Krankheit zugelassen. Auch in Deutschland wird an solchen plant made pharmaceuticals gearbeitet. Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie in Aachen ist es beispielsweise gelungen, einen HIV-Impfstoff in Tabakpflanzen zu züchten. Beim Pharmakonzern Bayer laufen ebenfalls Versuche mit Tabakpflanzen. Basierend auf einem Verfahren, das beim Hallenser Biotech-Unternehmen Icon Genetics entwickelt wurde, sollen die Pflanzen einen neuen Krebsimpfstoff gegen Lymphdrüsenkrebs herstellen – in speziellen Anlagen, unter kontrollierten Bedingungen. Keinesfalls sind solche Pflanzen für den normalen Acker geeignet. In intensiven Forschungsarbeiten wurden entsprechende Produktions- und Aufreinigungsverfahren etabliert, nun muss sich der neue Wirkstoff in klinischen Studien beweisen. Ausgehend von Forschungsarbeiten, die von Pflanzenforschern an der Universität Freiburg erfolgt sind, arbeitet die Biotech-Firma Greenovation wiederum an einem Produktionsverfahren für Medikamente auf der Basis des kleinen Blasenmützenmooses. Ende 2015 wurde das erste Medikament für die klinische Phase zugelassen (Greenovation). Es gibt zudem Pflanzen, deren Inhaltsstoffe als medizinische Wirkstoffe von Interesse sind. So wird die Substanz Paclitaxel, die in der Pazifischen Eibe (Taxus brevifolia) vorkommt, als Krebsmedikament eingesetzt. Aufgrund der geringen Verbreitung der Pflanze und des niedrigen Wirkstoffgehalts, könnte der weltweite Bedarf an Paclitaxel auf herkömmlichem Wege allein nicht gedeckt werden. Das Mittel wurde daher seit langem zusätzlich teilsynthetisch aus bestimmten pflanzlichen Wirkstoffvorstufen hergestellt. Im Jahr 2002 wurde vom britischen Pharmakonzern Bristol-Myers Squibb ein Verfahren entwickelt, bei dem isolierte Eibenzellen auf Nährmedien in Fermentern kultiviert wurden, um den Wirkstoff zu gewinnen. Die biotechnologische Herstellung erfolgt im schleswig-holsteinischen Ahrensburg bei der Phyton Biotech GmbH, die eine der weltweit größten pflanzenzellbasierten Fermenterkapazitäten aufweisen kann.
Neben den modernen biotechnischen Verfahren, die die Möglichkeiten der Medizin in den vergangenen Jahren signifikant verbessert haben, spielen aber auch heute noch traditionelle Arzneipflanzen eine wichtige Rolle. Der Anbau von heilenden Kräutern hat in Deutschland eine lange Geschichte. Insgesamt 440 Arzneipflanzen sind in Deutschland heimisch. Etwa 75 von ihnen werden hierzulande auf einer Fläche von rund 12.000 Hektar erwerbsmäßig angebaut. Vor allem in Thüringen, Bayern, Hessen und Niedersachen – gemeinsam decken diese Länder mehr als 70 % des heimischen Pflanzenanbaus ab. Den größten Anteil an der Gesamtanbaumenge hat die Kamille (mehr als 1.000 Hektar), gefolgt von Pflanzen wie Lein, Mariendistel, Pfefferminze und Sanddorn (jeweils 500 bis 1.000 Hektar). Der heimische Anbau stellt jedoch nur eine Nische dar: 90 % der verarbeitenden Arzneipflanzen werden importiert. Die Arzneien aus der Natur erfreuen sich in Deutschland großer Beliebtheit. Griffen Anfang der 70er Jahre nur 52% der Bevölkerung zu diesen Mitteln, waren es im Jahr 2002 bereits 73%. Vor allem bei der Behandlung von leichten Erkrankungen wie Erkältungen hat sich ihr Einsatz bewährt.
Vor allem Pflanzen, die nur in geringen Mengen eingesetzt werden oder die sich hierzulande nicht anbauen lassen, werden auch heute noch im Rahmen von Wildsammlungen an ihren natürlichen Standorten geerntet. Im Vergleich zum kommerziellen Landbau schwanken die Qualität und die quantitativen Zusammensetzungen ihrer Inhaltsstoffe jedoch. Daher wird versucht, auch neue, bisher nicht angebaute Pflanzen in Kultur zu nehmen. Leicht ist das jedoch nicht. So dauert es bei Kräutern mindestens fünf Jahre, bei Gehölzen teils noch länger, die Pflanzen für den Erwerbsanbau fit zu machen. Daher unterstützt das BMEL entsprechende Forschungsarbeiten. Im europaweiten Vergleich sind die in Deutschland angesiedelten Firmen bei der Herstellung von pflanzlichen Arzneimitteln Marktführer. Gleichwohl ist der Apothekenumsatz mit Phytopharmaka hierzulande rückläufig. Mit einem Umsatz von etwa 1.8 Mrd. Euro (Stand 2014/(Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V.) ist es aber immer noch das drittwichtigste Teilsegment im deutschen Pharmamarkt. Neben dem Einsatz in der Medizin gewinnen Arzneipflanzen für Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel an Bedeutung.
Heimischen Anbau von Arzneipflanzen fördern
Damit die deutsche Landwirtschaft stärker vom Markt der Arzneipflanzen profitieren kann, hat das BMEL das Demonstrationsprojekt KAMEL gefördert. Hier wurde am Beispiel von Kamille, Baldrian und Melisse versucht, die Rentabilität und Produktqualität bei diesen Arten durch Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu verbessern und damit deren Anbau in Deutschland zu intensivieren. Im Fokus standen züchterische Optimierungen sowie verbesserte Trocknungs-, Anbau-, Ernte- und Nacherntetechniken.