Ernährung
Die Ernährungsindustrie ist ein bedeutender Teil der Bioökonomie. Hier werden die Erzeugnisse aus der Landwirtschaft zu Lebensmitteln und Futtermitteln verarbeitet. Ressourcenschonende Technologien helfen dabei, gesunde, hochwertige und sichere Produkte zu erzeugen.
Beispiele aus der Bioökonomie:
Vitamine, Aromen und Aminosäuren,
Süßungsmittel, funktionelle Lebensmittel,
Wurst-, Fleisch-, Käseersatzprodukte

Mit rund 6.100 Unternehmen und 614.000 Beschäftigten gehört die Ernährungsindustrie zu den größten Industriezweigen in Deutschland. Der Gesamtumsatz lag nach Angaben der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) im Jahr 2020 bei fast 170 Mrd. Euro, ein europäischer Spitzenwert. Die Branche ist stark durch kleine und mittelständische Unternehmen geprägt, 90 % der Branchenunternehmen haben weniger als 250 Beschäftigte.
Darunter finden sich viele traditionsreiche Familienunternehmen und international erfolgreiche Hersteller deutscher Spezialitäten, die eng mit ihrem Standort verbunden sind. Wichtige Teilbranchen der Ernährungsindustrie sind die Fleisch- und Fleischwarenindustrie, die Milchwirtschaft, die Süß- und Backwarenindustrie, die Getränkeherstellung sowie die Verarbeitung von Obst- und Gemüse. Dies spiegelt sich auch in der großen Vielfalt an Produkten wider. Für die Bioökonomie ist der Ernährungssektor ein wichtiger Teilbereich – rund 80 % der Agrarproduktion in Deutschland werden von der Ernährungsindustrie zu hochwertigen Lebensmitteln verarbeitet. Zunehmend wichtiger werden Strategien, die Abfallprodukte aus der Ernährungs- und Futtermittelindustrie weiterverwerten.
Der Griff in die Werkzeugkiste der Natur ist bei Lebensmitteln kein neues Phänomen, schließlich wird zum Beispiel mit der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae seit Jahrtausenden Bier gebraut und Wein hergestellt. Die Stoffumwandlung mithilfe von Mikroorganismen wird mikrobielle Fermentation genannt. Milchsäurebakterien lassen Joghurt und weitere Molkereiprodukte entstehen. Sie helfen beim Konservieren von Lebensmitteln und Futter, wie beispielsweise bei der Herstellung von Sauerkraut oder Silage. Damit Milch tatsächlich zu Käse wird, muss der Eiweißanteil der Milch gerinnen, wofür das Lab-Enzym zuständig ist. Dieses wurde früher aus Kälbermägen gewonnen. Dank moderner biotechnologischer Verfahren übernehmen heute maßgeschneiderte Mikroorganismen in großen Stahltanks die industrielle Produktion dieser nützlichen Moleküle, die aus der Käseherstellung nicht mehr wegzudenken sind.
Enzyme im Einsatz
Viele Lebensmittel werden in der Ernährungsindustrie mithilfe von Enzymen, die als natürliche Biokatalysatoren wirken, hergestellt. Seit den 1960er Jahren haben sich mikrobielle Verfahren in Fermentern als Standard bei der Herstellung von Enzymen etabliert. Rund 50 unterschiedliche Enzyme sind derzeit in der Ernährungsindustrie im Einsatz. Etwa 20 Unternehmen in Deutschland stellen Enzyme her, darunter sind Chemiekonzerne wie die BASF, aber auch kleine und mittlere Unternehmen. Einige von ihnen werden bei der Technologie-Entwicklung mit Fördermitteln des BMBF und des Bundeswirtschaftsministeriums unterstützt.

Enzyme sind ressourcenschonende Multitalente, die sehr spezifisch zu Werke gehen und meist bei milden Bedingungen (niedrige Temperaturen, neutraler pH-Wert, wässrige Umgebung) aktiv sind. In der Backindustrie sorgen spezielle Enzyme für eine schöne und stabile Brotkruste. Andere Enzyme in Backmischungen helfen dabei, dem Teig Volumen und Farbe zu verleihen. Das inzwischen weit verbreitete Aufbacken von vorproduzierten Teig-Rohlingen wäre ohne solche Enzyme gar nicht möglich.
Manche Rohstoffe lassen sich mithilfe von Enzymen ernährungsphysiologisch aufwerten und effizienter nutzen. So helfen Pektinasen, die pflanzliche Zellwand beim Auspressen von Obst abzubauen und die Saftausbeute zu erhöhen. Zudem bauen sie Trübstoffe in Fruchtsäften ab. Auch die Lactase ist ein wichtiges Enzym in der Ernährungswirtschaft: Sie sorgt für die Spaltung des Milchzuckers Lactose. Das Enzym wird in Form von Tabletten und Kapseln angeboten, damit Menschen mit Lactoseintoleranz Milchprodukte zu sich nehmen können.
Enzymatische und mikrobielle Produktionsverfahren sind vielfach die Basis für die Herstellung natürlicher Aromastoffe. Erdbeeraroma wird beispielsweise mittels Pilzen gewonnen. Aus Hefen wird Pfirsicharoma extrahiert. Der erste Lebensmittelzusatzstoff, der in großem Maßstab biotechnologisch hergestellt wurde, ist Zitronensäure. Während diese Substanz früher aus Zitrusfrüchten gewonnen wurde, stammt mittlerweile die gesamte Weltproduktion in Höhe von 2 Mrd. Tonnen aus einem Verfahren, für das der Schimmelpilz Aspergillus niger als Zellfabrik genutzt wird. Zitronensäure wird in der Lebensmittelindustrie als Zusatzstoff E 330 für Getränke wie Limonade, Süßigkeiten, zum Ansäuern von Brot und in der Fleischverarbeitung eingesetzt.
Eine weitere wichtige Gruppe von Nahrungsmittelzusätzen wird ebenfalls biotechnologisch produziert: die Aminosäuren. Aminosäuren bilden die Grundbausteine der Proteine. Manche Aminosäuren sorgen für einen süßen Geschmack, manche duften nach Orangen, andere nach Zitronen. Die Salze der Glutaminsäure (Glutamat) wiederum dienen als Geschmacksverstärker. Glutamat wird mithilfe des Bakteriums Corynebacterium glutamicum im Industriemaßstab produziert – weltweit sind es 3 Mio. Tonnen jährlich.
Essenzielle Aminosäuren wie Lysin, Threonin und Methionin, die Organismen nicht selbst herstellen können, haben zudem eine große Bedeutung als Futtermittelzusatz. Weltweit werden inzwischen pro Jahr mehr als 2 Mio. Tonnen Lysin für die Futtermittelindustrie produziert. Zu den großen Herstellern von Aminosäuren für Futtermittel gehört der Spezialchemiekonzern Evonik.
Süßungsmittel sind zentraler Bestandteil vieler Lebensmittel. Dabei existiert ein Trend hin zu weniger kalorienreichen Substanzen – auch vor dem Hintergrund von Zivilisationskrankheiten wie Fettleibigkeit oder Diabetes. Gefragt sind Substanzen, die zwar süß schmecken, aber keinen Haushaltszucker enthalten. Eine solche Alternative sind Stevia-Glycoside aus der Tropenpflanze Stevia rebaudia. Sie besitzen annähernd die 200-fache Süßkraft von Haushaltszucker. Derzeit wird versucht, die Herstellung der Stevia-Süßstoffe durch biotechnologische Verfahren zu ermöglichen. Mithilfe von Hefezellen können die einzelnen Komponenten – darunter Stevioside und Rebauside – in hoher Reinheit hergestellt werden. Eine Hürde: Viele Stevia-Glycoside haben einen metallischen, leicht bitteren Beigeschmack. Das Leipziger Biotech-Unternehmen c-Lecta stellt daher ein Enzym her, mit dem sich Rebausid M herstellen lässt, das keinen bitteren Beigeschmack besitzt.

Das Zwingenberger Biotechnologie-Unternehmen Brain Biotech AG hat im Rahmen der Forschungsallianz DOLCE mehr als 60 pflanzenbasierte Moleküle identifiziert, die als Zuckerersatz oder als Verstärker infrage kommen. Den Protein-Süßstoff namens Brazzein, der in einer afrikanischen Beere vorkommt, wird Brain mit dem französischen Unternehmen Roquette im Industriemaßstab produzieren.
Brazzein wurde im Rahmen der von Brain koordinierten strategischen Allianz namens NatLifE 2020 erforscht. Das BMBF-kofinanzierte Konsortium mit mehr als 20 Partnern hat Naturstoffe erforscht, die als Geschmackswandler wirken und etwa einen bitteren Geschmack – wie den der oben genannten Stevia-Süßstoffe – maskieren können.
Ein weiterer Trend in der Nahrungsmittelbranche sind funktionelle Lebensmittel. Hierbei handelt es sich um Produkte, die durch biologisch aktive Inhaltsstoffe einen positiven, vor allem vorbeugenden Einfluss auf die Gesundheit haben können. Als funktionelle Zutaten gelten präbiotische Substanzen, zu denen spezielle Ballaststoffe gehören. Sie können sich positiv auf die mikrobielle Lebensgemeinschaft im Darm – das Mikrobiom – auswirken. Probiotische Milchprodukte enthalten lebende Bakterienstämme, die über die Nahrung eingenommen das Gleichgewicht des Mikrobioms verbessern sollen. Auch bestimmte sekundäre Pflanzenstoffe wie Polyphenole oder Glucosinolate gelten als gesundheitsfördernd. In einem BMBF-geförderten Projekt werden Pflanzenreste aus dem Paprikaanbau genutzt, um sekundäre Pflanzenstoffe zu gewinnen, die als Nahrungsergänzungsmittel dienen können. Das vom BMBF geförderte Unternehmen Jennewein Biotechnologie (gehört seit 2020 zu Chr. Hansen) hat ein biotechnisches Verfahren entwickelt, um humane Milchzucker als Zutat für Babynahrung zu erzeugen.
Durch das wachsende Gesundheits- und Umweltbewusstsein in der europäischen Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren die Nachfrage nach pflanzlichen Alternativen zu Fleisch erheblich gestiegen. Die Hersteller von Lebensmitteln reagieren auf den Wunsch vieler Verbraucherinnen und Verbraucher nach nachhaltigeren Lebensmitteln. Vegetarische und vegane Alternativen zu Wurst und Fleisch wie auch Milchprodukten liegen im Trend und haben mittlerweile die Mitte der Gesellschaft erreicht. Kein anderer Bereich im Lebensmittelsektor wächst derzeit so dynamisch wie der für Ersatzprodukte für Lebensmittel tierischen Ursprungs.
Tradition als alternative Proteinquellen haben pflanzliche Produkte aus Soja und Weizen. Immer stärker in den Fokus rücken Proteinpflanzen aus heimischem Anbau. Zu den wegen ihrer prächtigen Blütenstände auffälligsten Eiweißpflanzen hierzulande zählt die Lupine. Ihr Samen hat einen Proteingehalt von etwa 35 %. Der hohe Anteil an Bitterstoffen verhinderte lange Zeit einen Einsatz in der Lebensmittelindus-trie. Mit der Blauen Süßlupine (Lupinus angustifolius) fanden Forschende jedoch eine Sorte, die weniger der bitteren Alkaloide enthält und gegen viele Pflanzenkrankheiten resistent ist. Zudem ist die Hülsenfrucht im Anbau anspruchslos und gedeiht besonders in Norddeutschland sehr gut. Über Knöllchenbakterien an ihren Wurzeln bindet die Süßlupine Stickstoff und düngt damit den Boden.

Das Start-up Prolupin GmbH, eine Ausgründung des Fraunhofer-Instituts für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV in Freising, hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich weitgehend geschmacksneutrales Lupinenprotein aus den Samen extrahieren lässt. 2014 gab es für diese Innovation den Deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten. Prolupin mit Sitz in Mecklenburg-Vorpommern gewinnt neben dem Lupinen-Protein auch Fasern, Öl und Schalen, die sich ebenfalls als Zusätze für die Lebensmittelproduktion eignen. Das Unternehmen produziert und vermarktet zudem eigene Produkte wie Speiseeis, Desserts und Milchersatzgetränke.
Das BMEL unterstützt die Entwicklung von pflanzenbasierten Proteinalternativen durch Forschungsförderung im Rahmen der Eiweißpflanzenstrategie. In einem Verbundprojekt wollen Forschende zum Beispiel das Potenzial von bitterstoffreichen Lupinensorten als Proteinquellen erschließen. Ihr hoher Gehalt an Alkaloiden macht die Gewächse robuster gegen Schädlinge und sie sind leichter zu kultivieren als Süßlupinen. Die Bitterstoffe sollen mit moderner Verfahrenstechnik entfernt werden.
Andere BMEL-Forschungsprojekte zielen darauf ab, heimische Körnerleguminosen wie die Erbse für die Nutzung in innovativen Lebensmitteln zu optimieren. So schwankt die Qualität der Stärke in Erbsen sehr stark. Zweihundert Erbsen-Varietäten werden im Rahmen des Forschungsvorhabens angebaut und auf ihre Stärke-Eigenschaften untersucht.
Fleisch- und Käseprodukte aus dem Labor
Die industrielle Fleischproduktion verbraucht enorme Ressourcen und belastet Klima und Umwelt. Hinzu kommen ethische Bedenken und die Sorge der Konsumenten um das Tierwohl. Innovative Zellkulturtechnik eröffnet neue Möglichkeiten für eine nachhaltigere Lebensmittelproduktion. Immer mehr Forschende und Unternehmen beschäftigen sich mit der Herstellung von Fleisch und Fisch aus Zellkultur (cultured meat). Um Fleisch zu züchten, werden in der Regel Muskelstammzellen oder andere vermehrungsfähige Zellen im Bioreaktor kultiviert. Zu den innovativen Akteuren in Deutschland zählen das Rostocker Start-up Innocent Meat oder das Berliner Start-up Bluu Seafood. Mit veganem Mozarella und anderen Milchprodukten möchte wiederum das Berliner Start-up Formo den Markt erobern (Foto). Formo hat ein biotechnologisches Verfahren entwickelt, um die für Geschmack und Textur charakteristischen Moleküle Casein und Molkenprotein im Labor mithilfe von Hefen mikrobiell zu erzeugen. Daraus stellt das Start-up auf Basis pflanzlicher Fette verschiedene Käseersatzprodukte her.
Produkte auf Basis von Insekten-Proteinen sind im Lebensmittelsektor noch eine Nische (vgl. Kap. Die Rohstoffquellen der Bioökonomie). In Deutschland gibt es bereits einige Start-ups, die Insektenprodukte vermarkten. Darunter ist Bugfoundation, das mittlerweile zum Unternehmen Kupfer Innovative Food gehört. Es bietet Insektenburger an, deren Bulette zu hohen Anteilen aus gemahlenen Buffalo-Würmern besteht. Das Kölner Start-up SWARM Protein vermarktete Fitnessriegel auf der Basis von Insektenprotein aus Grillen. Inzwischen hat das Unternehmen seinen Fokus auf Tiernahrung verlagert und produziert Hundefutter. Das BMBF unterstützt mehrere Projekte, die das Potenzial von Insektenprodukten für Lebensmittel und Tierfutter ausloten.
Neben dem Innovationsraum NewFoodSystems (vgl. Kasten S. 65) beschäftigen sich auch einige Konsortien der Förderinitiative „Agrarsysteme der Zukunft“ damit. Im Verbundprojekt food4future wird beispielsweise die Aufzucht von Grillen für die urbane Lebensmittelproduktion erprobt. Der Verbund CUBES Circle verfolgt die Vision einer intelligenten Vernetzung von verschiedenen agrarischen Produktionssystemen für Pflanzen, Insekten und Fische in geschlossenen Energie- und Stoffkreisläufen. Die Larven der Soldatenfliege, die ideale Verwerter von Speiseresten oder anderen Nebenprodukten der Lebensmittelindustrie sind, werden hier als Futter für Silberkarpfen oder Tilapien eingesetzt.
Die Verwertung von Reststoffen aus der Nahrungsmittelindustrie im Sinne einer biobasierten Kreislaufwirtschaft ist Thema zahlreicher Projekte der aktuellen Bioökonomie-Forschung. Für Unternehmen der Ernährungswirtschaft bietet das sogenannte Upcycling die attraktive Möglichkeit, eine Vielzahl neuer Produkte mit Mehrwert aus diesen Nebenströmen zu gewinnen.
Ein Beispiel dafür liefert das vom BMBF-geförderte Konsortium „CocoaFruit“, das vom Fraunhofer-Institut IVV in Freising koordiniert wird. Es baut auf einer Kooperation mit Partnern aus Indonesien und deutschen Unternehmen auf. Ziel ist die ganzheitliche Nutzung der Kakaofrucht zur Entwicklung innovativer Lebensmittel und Zutaten. Die für die Schokoladenproduktion genutzten Kakaobohnen machen nur 10 % der Kakaofrucht aus, 90 % entfallen auf die bislang kaum genutzten Schalen und die Pulpe. Die Kakaofruchtschale soll als Substrat für die Kultivierung von Pilzen Verwendung finden, zum Beispiel für vegane Wurstersatzprodukte. Die Pulpe wird als Rohstoff zur Entwicklung von Fruchtzubereitungen und Getränken eingesetzt. Weitere Konzepte im Bereich Upcycling umfassen beispielsweise alkoholische Spirituosen aus Molke, Snacks aus Fruchtüberschüssen oder Bier aus aussortiertem Brot.