Artenvielfalt stärker bedroht als gedacht
Weltweit sind 30 % aller Arten entweder ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. Zu diesem Ergebnis kommt eine internationale Studie unter Beteiligung von iDiv und der Universität Leipzig.
Der erste globale Zustandsbericht zur Artenvielfalt im Jahr 2019 war ein Warnschuss: Darin machte der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) erstmals deutlich, wie dramatisch die Lage und wie notwendig ein tiefgreifender Wandel ist. Das Expertenteam kam zu dem Ergebnis, dass etwa eine Million der derzeit bekannten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten an Land und im Meer vom Aussterben bedroht ist, wenn der Mensch seine Lebensweise nicht ändert. Nun liefert eine neue internationale Studie ein differenzierteres, aber ebenso alarmierendes Bild zur globalen Biodiversität. Das Team kommt zu dem Schluss, dass im Durchschnitt 30% aller Arten weltweit in den letzten 500 Jahren vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben sind.
Bild zur biologischen Vielfalt vervollständigen
3.331 Expertinnen und Experten aus 187 Ländern, darunter vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig und der Universität Leipzig, beteiligten sich an der von der Universität Minnesota geleiteten Studie. Der Anspruch des Teams: die bestehenden Lücken bei der Erfassung der Artenvielfalt schließen, da die meisten Untersuchungen zur biologischen Vielfalt sich nur auf einige gut untersuchte Regionen oder Artengruppen konzentrieren. „Unser Ziel war es, bestehende Biodiversitätsassessments um wissenschaftlich wenig beachtete, aber hochrelevante Artengruppen und Weltregionen zu bereichern“, erklärt der Erstautor der Studie, Forest Isbell von der Universität Minnesota.
So kam der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) beispielsweise zu dem Ergebnis, dass etwa 10 % der Insektenarten vom Aussterben bedroht sein könnten. Dabei stützte sich der Rat weitgehend auf Schätzungen aus Europa. Die neue Umfrage, die hingegen Hunderte von Insektenexperten und -expertinnen aus der ganzen Welt einbezieht, kommt auf einen Mittelwert von 30%. „Dieser erhebliche Unterschied ergibt sich vor allem durch die Schätzungen für die am stärksten diversifizierten und am wenigsten untersuchten Arten“, erläutert Isbell. Die Schätzungen der Experten reichen von 16 % bis 50 %.
Alle Artengruppen in jeder Region berücksichtigen
„Auch wenn bei der begrenzten Informationslage noch nicht klar ist, welche Zahlen näher am wahren Wert liegen: Es wird deutlich, dass wir für ein vollständiges Bild der Lage die Meinung von Experten und Expertinnen für alle Artengruppen in jeder Region der Welt einholen müssen“, betont Isbell.
Mit der Studie wollte das Team auch jenen Forschenden eine Stimme geben, die sich mit weniger bekannten Arten beschäftigen. Dabei zeigte sich, dass der größte Artenverlust beziehungsweise die größte Bedrohung für Arten tropische und subtropische Lebensräume wie Flüsse, Feuchtgebiete und Wälder betrifft. Die Aussage basiert auf Schätzungen von Experten und Expertinnen, die sich mit Süßwasserökosystemen, Amphibien, Säugetieren und Süßwasserpflanzen befassen.
Regionale Bedingungen beeinflussen Artenvielfalt
Auch demografische und geografische Unterschiede in den Perspektiven und Einschätzungen der Experten bringt die differenziertere Betrachtung ans Licht. Mit seiner Studie wolle das Expertenteam auch andere Biodiversitätsforschende ermutigen, diese Ergebnisse zu nutzen, um ihre eigene Perspektive mit weiteren zu vergleichen, heißt es. „Die biologische Vielfalt hängt in hohem Maße von regionalen Bedingungen ab. Unser Ansatz, die Meinungen regionaler Expertinnen und Experten aus der ganzen Welt zusammenzubringen, ist bislang einzigartig“, sagt Mitautor Akira Mori von der Universität Tokio.
Breiteres Spektrum an Organismen betrachten
Die Forschenden kommen zu dem Schluss, dass deutlich mehr Investitionen und Bemühungen beim Artenschutz bis zum Jahr 2100 eine von drei bedrohten oder ausgestorbenen Arten vor dem Aussterben bewahren könnten. „Es müssen jedoch geeignete Schutzkonzepte entwickelt werden, die auf ein breiteres Spektrum von Organismen abzielen, um die Krise der biologischen Vielfalt zu bekämpfen“, sagt Mitautor Nico Eisenhauer, Professor bei iDiv und an der Universität Leipzig. „Jüngste Studien deuten beispielsweise darauf hin, dass mehrere aktuelle Naturschutzprogramme möglicherweise keine positiven Auswirkungen auf die biologische Vielfalt im Boden haben.“
Biodiversitätsexperten weltweit haben erst kürzlich in einer internationalen Studie gezeigt, dass zahlreiche von den Vereinten Nationen vorgeschlagene Maßnahmen zur Bekämpfung des Artensterbens auch die Klimaerwärmung stark verlangsamen können.
bb