Die neue europäische Bioökonomie

Die neue europäische Bioökonomie

Mehr als 500 Bioökonomieexperten aus Politik, Industrie und Forschung kamen letzte Woche in Brüssel zusammen, um die neue europäische Bioökonomiestrategie zu diskutieren.

Während der Bioökonomie-Konferenz in Brüssel, wurden in einer Bioökonomie-Ecke konkrete biobasierte Produkte und Anwendungen für den Alltag vorgestellt.

Vor mehr als sechs Jahrn wurde die erste Bioökonomiestrategie für Europa von der Europäischen Kommission verabschiedet. Bereits damals, im Jahr 2012, hatte die Strategie zum Ziel, das öffentliche Interesse zu wecken und die Rahmenbedingungen für die Nutzung erneuerbarer biologischer Ressourcen in einer erdölunabhängigen Industrie voranzutreiben. Mit den Jahren haben sich die Bedingungen und die Prioritäten etwas verschoben: Nachhaltigkeit sowie Kreislaufwirtschaft haben noch mehr an Bedeutung gewonnen. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklungen wurde Mitte Oktober eine aktualisierte Version der europäischen Bioökonomiestrategie veröffentlicht, die angepasste politische Maßnahmen im Sinne der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030  (SDGs) und für eine Kreislaufwirtschaft enthält. Da der Beitrag der Bioökonomie zum Bruttowert der EU bereits auf rund 4% geschätzt wird, veranstaltete die Generaldirektion Forschung, Wissenschaft und Innovation der Europäischen Kommission am 22. Oktober in Brüssel eine hochrangige Bioökonomiekonferenz, um die Änderungen der neuen Strategie zu kommunizieren und sich für die weiteren Anwendungsbereiche einzusetzen.

Die neue Strategie umfasst einen dreistufigen Plan zur Beschleunigung der Einführung einer nachhaltigen europäischen Bioökonomie durch eine Stärkung und Ausweitung des biobasierten Sektors, die Einführung lokaler Bioökonomie in ganz Europa sowie ein besseres Verständnis der ökologischen Grenzen der Bioökonomie. Das Ziel: Die Maximierung des bioökonomischen Beitrags zur Agenda 2030 und ihren SDGs sowie zum Pariser Klimaabkommen.

Bioökonomie wichtig für das Landleben

Mehr als 500 Bioökonomieexperten aus ganz Europa folgten der Einladung der Europäischen Kommission, über die neuen Schwerpunktthemen und Maßnahmen der überarbeiteten Strategie zu sprechen. Die Konferenz, die im Charlemagne-Gebäude in Brüssel stattfand, wurde online live übertragen und von John Bell, dem Direktor für Bioökonomie in der GD Forschung und Innovation, eröffnet. Er betonte, dass die neue Strategie es der Bioökonomie ermöglichen werde, den nächsten Schritt von einem Zukunftskonzept zur Realität zu machen. Seiner Ansicht nach sei „Bioökonomie das Gesicht der nächsten Wirtschaft".

Lebensqualität erhalten, Planet schützen

Auf Bell folgte Carlos Moedas, EU-Kommissar für Forschung, Wissenschaft und Innovation. Auch er verwies darauf, dass die neue Strategie nicht mehr nur eine Forschungs- und Innovationsstrategie sei, sondern ein enormes ungenutztes Potenzial für alle EU-Bürger enthalte - insbesondere für die Menschen in ländlichen Gebieten. Gleichzeitig forderte er das Publikum auf, aktiv an der Umsetzung mitzuwirken. Er nannte das Beispiel der Glühbirne, die vor fast 140 Jahren zunächst auf Skepsis und Ablehnung stieß, heute aber allgemein geschätzt wird. Moedas betonte auch die Notwendigkeit eines neuen Denkens. „Wir können nicht weiterhin auf die gleiche lineare Weise konsumieren, ohne Konsequenzen. Wir müssen die Lebensqualität erhalten und zugleich unseren Planeten schützen. Die Bioökonomie ist ein Weg, das zu erreichen", sagte er. Darüber hinaus hob Moedas die breite Anwendbarkeit hervor: „Das Prinzip der Bioökonomie ist für fast alle Industriezweige geeignet! Die neue Strategie muss diese Idee nun mit den europäischen Bürgern verbinden."

Bioökonomie-Grundlagen ausbauen und regional anpassen

Abgerundet wurden die hochrangigen Begrüßungsansprachen durch Phil Hogan, EU-Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung. „Wenn wir sie richtig handhaben, wird die Bioökonomie allen Seiten zugute kommen", so Hogan. Außerdem könne die Bioökonomie nicht nur die ländliche Wirtschaft ankurbeln und zum Kampf gegen den Klimawandel beitragen, sondern auch eine neue, integrierte landwirtschaftliche Wertschöpfungskette schaffen. Er wies außerdem auf die vielen erfolgreichen Beispiele und Anwendungen von Bioökonomieprojekten in ganz Europa hin und forderte von den Teilnehmern, auf diesen Grundlagen aufzubauen und sie für ihre eigenen Regionen anzupassen. Laut Hogan stelle die überarbeitete Strategie die politischen Rahmenbedingungen für diese Unterfangen.

100 Mrd. Euro für Horizon-Europe-Programm

Er gab zudem zu bedenken, dass der Bedarf an Lebens- und Futtermitteln weiter steigen werde, und legte daher einen neuen Haushaltsvorschlag vor: „Für den nächsten Haushalt der Europäischen Union für die Jahre 2021 bis 2027 schlägt die Kommission ein Budget von 100 Milliarden Euro für das Horizon Europe Programm vor. Es wird das ehrgeizigste Forschungs- und Innovationsprogramm aller Zeiten sein!" Darüber hinaus schätzt die Kommission, dass die biobasierte Industrie mit dem Start dieser überarbeiteten EU-Bioökonomiestrategie bis zum Jahr 2030 bis zu eine Million neue Arbeitsplätze schaffen könnte. Diese zusätzlichen Arbeitsplätze werden vor allem in ländlichen Gebieten besonders wertvoll sein, so Hogan weiter und erklärte: „Ein weiterer ländlicher Arbeitsplatz bedeutet eine weitere Familie, die in ländlichen Gebieten lebt, in lokalen Geschäften einkauft und an sozialen Aktivitäten teilnimmt. Daher ist die Bioökonomiestrategie ein wichtiger Bestandteil des Plans der Kommission zur ländlichen Verjüngung."

Die Grafik veranschaulicht die drei Säulen einer erfolgreichen und nachhaltigen Bioökonomie:

  •     Gewährleistung der Nahrungssicherung
  •     Die fossile Wirtschaft hinter sich lassen
  •     Erschließung des Potenzials von Meeren und Ozeanen

In drei Schritten zum Erfolg

Nach den drei hochkarätigen Vorträgen skizzierte ein kurzes Video die wichtigsten Änderungen in der überarbeiteten Strategie zur Förderung der Verwirklichung einer gesamteuropäischen Bioökonomie: Erstens zielt die Kommission darauf ab, den biobasierten Sektor durch die Erschließung von Investitionen und Märkten sowie durch den Einsatz innovativer biobasierter Lösungen und die Entwicklung von Ersatzstoffen für Kunststoffe zu stärken. Zweitens wird der Aufbau lokaler Bioökonomie in ganz Europa durch den Übergang zu nachhaltigen Nahrungs- und Landwirtschaftssystemen, einer nachhaltigen Forstwirtschaft und stärker diversifizierten Einnahmen für Landwirte und Fischer gefördert. Und nicht zuletzt wird ein besseres Verständnis der ökologischen Grundlagen die Kenntnisse über Biodiversität und Ökosysteme verbessern. Wie im Video dargelegt, will Europa mit diesen drei Prioritäten die Weichen für eine innovativere und nachhaltigere Bioökonomie stellen.

Auf dem Weg zu gesunder Ernährung und einer Kreislaufwirtschaft

Das anschließende Konferenzprogramm war in vier Themengruppen unterteilt, die sich von der sozialen Umsetzung der Bioökonomiestrategie über strategische Forschungsprioritäten, lokale Entwicklung bis hin zu neuen Investitionen für den biobasierten Sektor erstreckten.

Während der gesamten Veranstaltung präsentierte eine vom Europäischen Bioökonomienetzwerk organisierte Bioökonomie-Ausstellung konkrete biobasierte Produkte und Anwendungen für den Alltag. Das Netzwerk bündelt eine Vielzahl von EU-finanzierten Projekten wie BIOVOICES, BIOWAYS, Biobridges, BioCannDo, Agrimax, First2Run, CommBeBiz, Leguval, BIOBOTTLE, BioSTEP und viele andere, die sich auf die Kommunikation der Bioökonomie spezialisiert haben.

Die Vorträge zum Thema Forschungsprioritäten befassten sich mit dem Bedarf an strategischer Forschung und Innovation für wichtige bioökonomische Bereiche. Ein Schwerpunktthema war die Erforschung der Agrar- und Ernährungssysteme sowie der damit verbundenen neuen Technologien und Prozesse. Jochen Weiss, Professor an der Universität Hohenheim und Ko-Vorsitzender der ETP „Food for Life", unterstrich die Bedeutung neuer Lebensmittelquellen: „Lebensmittel müssen nicht nur nachhaltig, sondern auch nachhaltig gesund sein!" Als Beispiel nannte er insektenbasierte Lebensmittel, die proteinreich, aber nachhaltig in der Produktion sind und aufgrund ihres geringen Fettgehalts als gesund gelten.

Die letzte Vortragsreihe mit den Schwerpunkten Investitionen, Märkte und biobasierter Sektor wurde von Christine Lang, Ko-Vorsitzende des Deutschen Bioökonomierates, geleitet. Ihrer Meinung nach gibt es drei Kernpunkte, die auf dem Weg zu einer erfolgreichen Bioökonomie angegangen werden müssen: Die Großindustrie muss in die Bioökonomie investieren, es müssen gleiche Wettbewerbsbedingungen für biobasierte Produkte geschaffen werden und die Gesellschaft muss von einer linearen zu einer Kreislaufwirtschaft übergehen.

Der ehemalige französische Fußballstar Mathieu Flamini war ebenfalls eingeladen, über seine Ansichten und Erfahrungen zu berichten. Als Mitbegründer von GFBiochemicals, das Levulinsäure mit potenziellen Anwendungen in der Körperpflege, in der Aroma-, Duftstoff- und Pharmaindustrie sowie bei Nahrungsergänzungsmitteln, Harzen und Beschichtungen herstellt, wies er daraufhin, dass eine angemessene Finanzierung eine der größten Herausforderungen für Unternehmen in dieser Branche sei. „Es geht nicht nur darum, mehr Subventionen zu vergeben, sondern auch darum, wie man diese Hilfsmaßnahmen besser verteilen kann", sagte er und betonte, dass der erfolgreiche Übergang vom Pilotprojekt zur industriellen Herstellung ausreichend Geld erfordere. Darüber hinaus hob er die Notwendigkeit der Kommunikation hervor. „Es ist wichtig, Menschen miteinzubeziehen und zu begeistern. Wir alle hier wissen sehr gut, was Bioökonomie ist, aber die Menschen auf der Straße werden es nicht wissen", so Flamini.

Andere Industrievertreter wie Catia Bastioli, die Vorstandsvorsitzende des italienischen Bioökonomieunternehmens Novamont, forderten nachhaltigere Ansätze: „Wir müssen Industrien schaffen, die wenig Land benötigen."

Christine Lang unterstrich zum Ende ihrer Themenrunde abermals die Bedeutung neuer technologischer Ansätze für die Erreichung der Ziele einer nachhaltigen Bioökonomie: „Wir dürfen nicht vergessen, dass Biotech und Hightech die Zugpferde der Bioökonomie sind – wir müssen hier global denken, um wettbewerbsfähig zu bleiben!"

jmr