Sie sehen aus wie zwei große Kühlschränke und stehen eingerahmt von frischen Kräutern im Supermarkt. Doch – noch – lassen sich die Türen der Schränke nicht von den Kunden öffnen. Denn was dort in Berlin und inzwischen auch in weiteren deutschen und europäischen Städten in den Supermärkten steht, sind hydroponische Farmen des Start-ups Infarm. Was daraus erntereif ist und außerhalb der Schränke in den Verkauf kommt, entscheiden die Mitarbeiter. Willkommen in der Landwirtschaft der Zukunft.
Landwirtschaft in die Stadt holen
„Vertikales Indoor-Farming“ nennt Infarm das Prinzip, das die Landwirtschaft in die Stadt holt. Vor rund fünf Jahren hatten die Gründer die Idee dazu. Von November 2016 bis April 2018 förderte die EU das junge Unternehmen im Rahmen des Horizon-2020-Programms als SME-Projekt mit rund 2 Mio. Euro, verhalf der Technologie zur Marktreife und dem Start-up zum Durchstarten.
„Zu Beginn der Förderung hatten wir einen Prototypen und unser erstes erfolgreiches Projekt mit der Metro“, erinnert sich CFO Martin Weber. „Mit den heutigen Farmen waren die Prototypen aber kaum zu vergleichen.“ Das Prinzip ist dennoch geblieben: In standardisierten Glasschränken wachsen auf mehreren Ebenen Pflanzen jeder Wachstumsphase, deren Wurzeln von Wasser umspült und so mit Nährstoffen versorgt werden. Individuelle Beleuchtung und optimierte klimatische Bedingungen sorgen für ein bestmögliches Wachstum.
95% weniger Wasser, 75% weniger Dünger
Die Idee des vertikalen Indoor-Farmings ist – neben der Frische – vor allem eine ökologische: Der Flächenverbrauch wird verringert und die Böden sowie das Grundwasser werden nicht belastet. Weil das Wasser zirkuliert wird, sinkt der Wasserverbrauch um 95%, und gegenüber einem Anbau im Boden benötigen die Pflanzen 75% weniger Dünger, erläutert Weber. Ein riesiger Vorteil ist zudem der ersparte Transportweg: „Die Pflanzen wachsen dort, wo sie verkauft werden“, betont der CFO. Wichtig ist ihm außerdem: Die Verbraucher zahlen am Ende nicht mehr als für Pflanzen, die konventionell in Gewächshäusern erzeugt wurden – häufig in Übersee. „Wir wollen nicht für das oberste Prozent produzieren, sondern die wachsende Weltbevölkerung ernähren“, gibt Weber das Ziel vor.
Auch ausgefallene Sorten wie Bordeaux-Basilikum bietet Infarm für seine Farmen an.
Natürlich steckt in den Farmen die ein oder andere technische Raffinesse, die das Unternehmen nicht verraten möchte. Doch mindestens genauso wichtig ist die (Fern-)Steuerung der Anlagen. „Wir verkaufen nicht die Farmen, sondern einen vollumfänglichen Service“, schildert Weber. Selbst entwickelte Algorithmen sorgen dafür, dass sich die Wachstumsbedingungen – bestehend aus Licht, CO2-Gehalt, Nährstoffen, Wasser und Temperatur – dynamisch an den Bedarf der Pflanze anpassen. Dabei sind die Algorithmen spezifisch auf die jeweilige Kräutersorte abgestimmt. Apropos Sorte: Die individuelle Produktion erlaubt es den Supermärkten, ausgefallene Salat- und Kräutersorten anzubieten, die im Großmarkt sonst nicht zu finden sind, wie etwa die Peruanische Minze oder Wasabi-Rucola. 60 Sorten hat Infarm derzeit im Sortiment.
50.000 Datenpunkte je Pflanze
Allein 50 der heute rund 300 Mitarbeiter sind weiterhin mit Forschung und Entwicklung beschäftigt. Neueste Optimierungen halten per Softwareupdate automatisch bei allen Kunden Einzug. „Für uns ist jede Farm operatives Geschäft und zugleich Forschungsstandort“, erläutert Weber. „Jede Pflanze liefert rund 50.000 Datenpunkte.“ Außerdem warten eigene Mitarbeiter die Farmen, pflanzen und ernten. Zu jeder Zeit enthält eine Farm Pflanzen in unterschiedlichen Wachstumsphasen. So werde der Platz optimal ausgenutzt und es gebe immer frische Ernten. „Mittelfristig ernten die Supermarktangestellten selbst“, gibt der CFO einen Ausblick, wie es nach der Anfangsphase weitergehen soll.
Es geht auch größer: Manche Erzeuger setzen auf Hallen mit Infarm-Farmen für den Kräuteranbau.
Für das kommende Jahr steht die Expansion in weitere Länder im Vordergrund, die mit Paris, London und Kopenhagen bereits begonnen hat und im nächsten Jahr in vielen Metropolen fortgesetzt wird. In Deutschland soll vor allem die Kooperation mit Edeka das Wachstum voranbringen. Außerdem gibt es bereits den einen oder anderen Erzeuger, der große Hallen mit Infarm-Geräten gefüllt hat und für den Großmarkt produziert. Das nächste Ziel für Forschung und Entwicklung sind neue Anbauprodukte. Und langfristig? „Wir wollen die weltweit führende Frucht- und Gemüseabteilung aller Megastädte von morgen werden“, gibt sich Weber selbstbewusst.
Fördermittel schaffen Vertrauen
Rückblickend auf das Förderprojekt stellt Weber zwei wichtige Aspekte heraus: Zum einen kostet jede Farm, die in einem Supermarkt steht, erst einmal Geld. Da die Farmen zugleich der Forschung und Entwicklung dienen, konnten diese Prozesse durch die Fördermittel beschleunigt werden und waren nicht länger auf einen Prototypen beschränkt. „Auch der Aufbau der Infrastruktur war neben der Forschung und dem Bau der Farmen kapitalintensiv“, erläutert der CFO. Zum anderen hat das Förderprojekt die für die Expansion so wichtige Akquise von Investoren erleichtert: „Wenn die Europäische Kommission Steuergelder an ein junges Unternehmen rausgibt, schafft das Vertrauen bei den Investoren und minimiert deren Risiko“, weiß Weber aus Erfahrung: Infarm hat inzwischen finanzkräftige Investoren überzeugt und in einer Finanzierungsrunde 88 Mio. Euro Kapital eingesammelt. Das Berliner Start-up ist damit klar auf Wachstumskurs.
Autor: Björn Lohmann