Globale Artenvielfalt erfassen

Globale Artenvielfalt erfassen

Michael Ohl

Beruf:
promovierter Biologe

Position:
kommissarischer Leiter des Zentrums für integrative Biodiversitätsentdeckung am Museum für Naturkunde Berlin

Michael Ohl
Vorname
Michael
Nachname
Ohl

Beruf:
promovierter Biologe

Position:
kommissarischer Leiter des Zentrums für integrative Biodiversitätsentdeckung am Museum für Naturkunde Berlin

Michael Ohl

Der Berliner Biologe Michael Ohl will die Vielfalt der Tierarten auf der Erde mithilfe innovativer Technologien erfassen - am neuen Zentrum für integrative Biodiversitätsentdeckung.

Das Artensterben nimmt weltweit zu. Vor allem der Rückgang der Insekten ist dramatisch – auch in Deutschland. Lebensraumzerstörung, Umweltgifte und Klimawandel sind die Ursachen für die verheerende globale Entwicklung. Gleichzeitig gibt es noch Millionen von unbekannten Arten, die auf ihre Entdeckung warten. Hier setzt die Arbeit des im Juni 2018 gegründeten Zentrums für Integrative Biodiversitätsentdeckung am Museum für Naturkunde in Berlin an. Ein Team um den kommissarischen Leiter des Zentrums, Michael Ohl, konzentriert sich dabei auf die Erkundung und Erforschung der Tierarten auf der Erde. Der Biologe will die „Spieler im komplexen Gefüge der Natur" mithilfe moderner Technologien aufspüren und erforschen. Sein Anliegen: die weltweite Biodiversität besser verstehen und Antworten auf drängende Fragen wie das Artensterben liefern. Im Fokus stehen auch Insekten, die als Bestäuber für den Fortbestand der Ökosysteme von besonderer Bedeutung sind. 

Frage

Warum ist ein solches Zentrum überhaupt notwendig?

Antwort

Die Vielfalt des Lebens auf der Erde ist eine fundamentale Komponente für das gesamte Erdsystem und besonders für die weltweiten Ökosysteme. Wir müssen wissen, welche Arten auf der Erde existieren, um verlässliche Aussagen über die Natur machen zu können. Auf der anderen Seite aber beobachten wir ein Artensterben in einem erschreckenden Ausmaß, und es besteht kein Zweifel daran, dass wir das Tempo, mit dem wir die Arten erfassen wollen, drastisch erhöhen müssen. Neben der Erfassung der globalen Artenvielfalt dient das Zentrum auch dazu, neue Methoden und Konzepte zu entwickeln und zu erproben, um die Artenentdeckung effizienter durchzuführen.

Frage

Welche Aufgaben hat das neue Zentrum?

Antwort

Ich sehe in der Entdeckung aller Tierarten der Erde das wichtigste programmatische Ziel des neuen Zentrums. Es sind heute etwa 1,5 Millionen Tierarten bekannt. Die neueren Hochrechnungen gehen davon aus, dass etwa 8 Millionen Arten noch unentdeckt sind. Das ist eine große Herausforderung, weil der Großteil der noch unentdeckten Arten klein und unauffällig sein dürfte. Der größte Teil wird dabei in schwer zugänglichen Lebensräumen leben, wie zum Beispiel in der Tiefsee, im Boden und in den Baumkronen der Regenwälder.

Das Zentrum ist in drei Arbeitsbereiche untergliedert. In einem der Arbeitsbereiche werden viele taxonomische Projekte durchgeführt, aber auch Methoden und Technologien der integrativen Biodiversitätsentdeckung entwickelt. Ein weiterer Bereich befasst sich mit der Datenintegration. Viele der modernen Technologie wie Genomik und Mikro-Computertomographie führen zu einer enormen Menge an digitalen Daten, die intelligent verarbeitet und analysiert werden müssen. Der dritte Bereich zielt darauf ab, taxonomische Projekte mit Bezug zu Anwendungsbereichen zum Beispiel in der Medizin, Tiermedizin und Agrarwissenschaft aufzubauen. 

Frage

Welche Chancen bietet das Wissen um die globale Artenvielfalt?

Antwort

Die Millionen von biologischen Arten stehen auch für Millionen von Lösungen für evolutive Probleme, die uns helfen können, nicht nur die Natur zu verstehen, sondern auch manche unserer eigenen Probleme zu lösen. In der Natur entdeckte Inhaltsstoffe, Oberflächenstrukturen, Materialeigenschaften und vieles mehr haben bereits jetzt zu zahlreicheninteressanten Anwendungen geführt. Die noch unentdeckte Artenvielfalt beherbergt das Potenzial, ähnliche Lösungen für wichtige gesellschaftliche Fragen zu liefern, wie etwa Welternährung und Weltgesundheit. Daneben ist eine flächendeckende Erfassung der Arten eine wichtige Grundlage für ein dringend benötigtes Arten-Monitoring, mit dem die Veränderung der Artenzusammensetzung langfristig dokumentiert wird. Das ist eine Voraussetzung, um die richtigen Maßnahmen zum Arten- und Lebensraumschutz zu entwickeln.

Frage

Allein die weltweite Erfassung der Arten klingt nach einer Mammutaufgabe, die nicht nur Personal, sondern auch technisches Know-how erfordert. Wie wollen Sie diese Herausforderung meistern? 

Antwort

Moderne Taxonomie, also die wissenschaftliche Entdeckung, Beschreibung und Benennung von Arten, muss heute global und als Teamwork durchgeführt werden. Die Spezialisten für die verschiedenen Tiergruppen sind weltweit verteilt, und ich sehe es als eine der Herausforderungen auch des neuen Zentrums an, verschiedene Kompetenzen zusammenzubringen. Über die biologischen Kompetenzen hinaus ist aber Expertise in Bereichen wie Bioinformatik und Datenmanagement erforderlich, um die enormen Mengen an molekularen und Bilddaten nachhaltig zu archivieren und in intelligenter Weise analysieren zu können. Erfreulicherweise ist das Zentrum finanziell so aufgestellt, dass wir mehrere neue Stellen besetzen können.

Frage

Welche Organismengruppen stehen im Fokus und warum? Gibt es eine Dringlichkeitsliste?

Antwort

Organismengruppen mit überdurchschnittlich hohen Artenzahlen sind meist auch diejenigen mit besonderer Bedeutung für die Ökosysteme, aber auch für anwendungsbezogene Fragen. Aus diesem Grund stehen Insekten, bei denen der Anteil an noch nicht entdeckten Arten besonders hoch ist, auch im Fokus. Manche der Insektengruppen wie die mehr als 20.000 schon bekannten Wildbienenarten, sind zudem wichtige Bestäuber nicht nur in den natürlichen Lebensräumen, sondern auch im Obstbau. Es gibt ein großes Interesse, besonders solche Tiergruppen besonders intensiv zu erforschen. Daneben gibt es aber weitere Gruppen wirbelloser Tiere mit einem hohen Anteil unentdeckter Vielfalt wie Fadenwürmer und Milben.

Frage

Welche Hoffnungen verbinden Sie als Forscher mit der weltweiten Erfassung und Erforschung der Arten?

Antwort

Die derzeitigen klimatischen Veränderungen und das weltweite Artensterben sowie die daraus resultierenden globalen Änderungen der weltweiten Ökosysteme stellen die wahrscheinlich größte und drängendste Herausforderung für die menschliche Gesellschaft dar. Ich halte es für enorm wichtig, die Spieler im komplexen Gefüge der Natur zu kennen. Erst dann können wir verstehen, wie die Natur funktioniert, aber auch, was wir tun müssen, um den Einfluss des Menschen in sinnvolle Bahnen zu lenken. Darum halte ich eine weltweite Erfassung aller Arten für eine wichtige Aufgabe. Nicht zuletzt treibt mich als Wissenschaftler natürlich auch die Neugierde, der Artenvielfalt auf die Schliche zu kommen. Ich bin immer wieder überrascht, welche Anpassungen die Arten im Laufe der Evolution entwickelt haben.

Interview: Beatrix Boldt