Hannover Messe 2022: Bioökonomie trifft Hightech-Industrie
Nachhaltige Innovationen für eine Industrie im Wandel – das ist der Leitthema der Hannover Messe 2022. In Halle 2 gewährt das "Schaufenster Bioökonomie" wieder spannende Einblicke in eine biobasierte Zukunft.
Mit 2.500 ausstellenden Unternehmen aus rund 60 Ländern – China, Russland und Ukraine sind nicht vertreten – ist die Hannover Messe 2022 nur halb so groß wie in den Vor-Corona-Jahren. Dennoch ist auf dem Messegelände die Erleichterung zu spüren, dass die weltgrößte Industrieschau wieder in Präsenz stattfinden kann. Die Hannover Messe steht in diesem Jahr mit dem Leitthema Industrial Transformation ganz im Zeichen von Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Welchen Beitrag die Bioökonomie für eine nachhaltige Zukunft leisten kann, davon können sich noch bis zum 2. Juni die Besuchenden der weltgrößte Industrieschau im Schaufenster Bioökonomie in Halle 2 (Future Hub) überzeugen.
Der Gemeinschaftsstand des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) bietet zahlreichen Forschungs- und Entwicklungsprojekten für ein biobasiertes Wirtschaften eine Bühne (Stand A33). Konzipiert und betreut wird der Gemeinschaftstand vom Projektträger Jülich (PtJ) und der Fachagentur für Nachwachsende Rohstoffe e.V. (FNR). Auch das Team der Informationsplattform bioökonomie.de ist vor Ort.
Von dem Facettenreichtum der Bioökonomie überzeugte sich auch BMBF-Staatssekretärin Judith Pirscher bei ihrem Besuch am zweiten Messetag. Ihren Rundgang startete sie mit einer Stippvisite am interaktiven Augment-Reality-Exponat von bioökonomie.de. Auf einer weißen Modell-Landschaft lassen Tablets fünf interaktive Bioökonomie-Welten erscheinen: eine Stadt mit biobasierten Innovationen, ein Forschungsinstitut für Boden- und Pflanzenforschung, ein Einkaufszentrum, eine Bioraffinerie und ein Informationszentrum. Der Blick in die virtuelle Welt liefert gleichzeitig Informationen zu BMBF-geförderten Forschungsprojekten in Form von Texten, Videos sowie Animationen.
Gleich benachbart zum AR-Exponat ist das große Bioraffinerie-Modell der RWTH Aachen aufgebaut. In Bioraffinerien wie dieser werden Holzreste mithilfe verschiedener Verfahren zerlegt und bearbeitet, um biobasierte Kraftstoffe oder Chemikalien zu gewinnen. Mit einem Multimedia-Tisch und grünem Queller in schmalen Pflanzenkästen waren auch die Forschungskonsortien der Fördermaßnahme Agrarsysteme der Zukunft im Schaufenster Bioökonomie präsent.
Biobasierte Verbundstoffe für die Automobilbranche
Ein Schwerpunkt im „Schaufenster Bioökonomie“: die Nutzung von Reststoffen. Welches Potenzial Abfallstoffe haben, zeigte beispielsweise das Deutsche Institut für Textil-und Faserforschung. Im Rahmen des vom BMBF geförderten Verbundprojektes PFIFFIG wollen zwölf Partner aus Forschung und Industrie aus Chicorée-Wurzeln Furandicarbonsäure (FDCA) zur Herstellung von PEF-Fasern für textile Anwendungen wie Autositze gewinnen. „Unser Ziel ist es, Fasern zu entwickeln, die eine bessere Temperaturbeständigkeit als PET haben und zugleich aus Reststoffen bestehen“, erklärt Martin Dauner von DITF. Forschende des Fraunhofer Instituts UMSICHT nutzen hingegen Reststoffe der industriellen Kaffeeproduktion, um aus Kaffeesatz Papier und neue Kunststoffe herzustellen.
Die Bastrinde der Nutzhanfpflanze ist hingegen der Rohstoff, aus dem Forschende der TH Bingen in einem vom BMEL geförderten Projekt einen neuen biobasierte Verbundwerkstoff entwickeln. „Wir nehmen die Rinde als Verstärkung für das Komposit, denn sie hat eine sehr hohe Steifigkeit“, erläutert Lukasz Derwich von der TU Bingen. Epoxidiertes Leinöl gibt dem Verbundstoff demnach seine Härte und macht es damit auch für den Automobilbau interessant. Gleich nebenan präsentiertet das Fraunhofer WKI eine Autotür aus Flachsfasern, die im Rahmen des BMEL-Forschungsvorhabens Bioconcept-Car entwickelt wurde. Die im BMBF-Projekt ELBE-NH konzipierte Lignin-Bioraffinerie war hingegen ein Beispiel, wie Restströme aus Biomassen mittels neuer Aufschlussverfahren zahlreiche neue Zusatzstoffe etwa für die Getränkeindustrie liefern können.
Atlas zu Beispielregionen zur Bioökonomie veröffentlicht
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) wirft an seinem Stand in Halle 2 ebenfalls ein Schlaglicht auf die industrielle Bioökonomie. Hierzu fördert das Ministerium etwa den Aufbau von Demonstrationsanlagen. Zeitgleich zur Hannover Messe wurde ein digitaler Atlas der Beispielregionen der industriellen Bioökonomie veröffentlicht. Demnächst sollen in Zusammenarbeit mit der Dialogplattform Industrielle Bioökonomie auch Best-Practice-Beispiele aus der industriellen Bioökonomie in Deutschland veröffentlicht werden. Am BMWK-Stand war das Start-up Algoliner mit einem Algenbioreaktor als Exponat vertreten. Algoliner entwickelt Produktionsmethoden für geschlossene Photobioreaktor-Systeme für die Mikroalgen-Kultivierung.
Spektakulärer Algen-Photobioreaktor
Ebenfalls über das Thema Algen erschließt das auf Automatisierungstechnik spezialisierte Unternehmen Festo die kreislaufbasierte Bioökonomie als Wirtschaftssystem der Zukunft. In Halle 6 präsentiert der Mittelständler das Forschungsprojekt PhotoBionicCell. Dafür haben die Festo-Forschenden einen spektakulären Photobioreaktor entwickelt, der demonstriert, wie mit Automatisierungs- und Regelungstechnik die Kultivierung von Algen-Biomasse im großen Stil möglich wird: Über dem grün schimmernden Glas-Bioreaktor spannen sich trichterförmig riesige Flächenkollektoren auf, die aus einem feinen Schlauchsystem bestehen. Die Algenflüssigkeit wird nach oben gepumpt und strömt gleichmäßig wieder zurück in den Kultivator. So werden die Algen im geschlossenen Kreislauf hocheffizient und ressourcenschonend kultiviert.
„In den Kollektoren kühlt sich die Algenlösung ab und wird mit CO2 aus der Luft gleichmäßig begast“, so Sebastian Schrof vom Festo-Projektteam im Gespräch mit bioökonomie.de. Im Vergleich zu anderen Bioreaktorsystemen können man hier mehr als die zehnfache Menge an Biomasse gewonnen werden und einhundert Mal mehr CO2 binden als Landpflanzen wie Bäume oder Mais. Die von den Algen produzierten Stoffe dienen als Ausgangsmaterial zur Herstellung von Medikamenten, Lebensmitteln, Kunststoffen oder Kosmetika. Projektpartner ist das Team um Tobias Erb vom Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie, das mit Synthetischer Biologie die Photosynthese optimieren möchte. „Wir zeigen hier einen möglichen Ansatz für die industrielle Biologisierung von morgen“, so Schrof.
bb/pg