Roggen – das Getreide der Zukunft?

Roggen – das Getreide der Zukunft?

Durchbrüche in der Züchtung könnten der vernachlässigten Kulturpflanze zu einem Comeback verhelfen – insbesondere in der Klimakrise.

Feld mit unterschiedlichen Getreidepflanzen mit ähnlicher Wuchshöhe
Roggen mit genetischer Halmverkürzung: Die Prototypen erreichen eine Wuchshöhe von normalstrohigem Triticale (im Vordergrund links u. rechts) und sind deutlich kürzer als normalstrohiger Roggen im Hintergrund.

Die Landwirtschaft steht vor großen Herausforderungen: Sie soll eine wachsende Weltbevölkerung ernähren, ökologisch nachhaltig werden und den Veränderungen der Klimakrise trotzen. Womöglich könnte Roggen ein Teil der Lösung sein: „Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war Roggen ein prägender Teil unserer Landwirtschaft“, erzählt Bernd Hackauf vom Julius Kühn-Institut (JKI), „seitdem hat er massiv an Bedeutung verloren.“

Während Landwirte heute in Deutschland auf etwa 3 Millionen Hektar Weizen anbauen, wächst Roggen nur auf etwa 0,6 Millionen Hektar. Mit dieser Fläche ist Deutschland allerdings dank leistungsstarker Hybridsorten bereits der weltgrößte Roggenproduzent. Noch klarer wird der Bedeutungsverlust dieses Getreides, wenn man auf die Erntemengen schaut: Weniger als drei Prozent der 271 Millionen Tonnen Getreide, die Europas Landwirtschaft jährlich produziert, ist Roggen. „Anfang des 20. Jahrhunderts waren in Deutschland noch 43 Betriebe in die Roggenzüchtung involviert, heute sind es nur noch vier bis fünf“, sagt Hackauf.

Selbstbefruchtung erschwert Züchtung

Wie ist dazu gekommen? Roggen ist im Hinblick auf seine Fortpflanzungsbiologie als Fremdbefruchter einzigartig unter den kleinkörnigen Getreidearten. Selbstbefruchtenden Linien, die es vom Roggen gibt, sind beim Ertrag weit abgeschlagen. „Die Fremdbefruchtung macht züchterische Anpassungen extrem komplex“, erklärt Hackauf. Dadurch konnte die Roggenzüchtung zunächst nicht mit der Technisierung in der Landwirtschaft Schritt halten. Vor allem die Wuchshöhe ist nach wie vor eine Herausforderung: Während es bei Weizen vergleichsweise schnell gelungen ist, Winterhärte, Krankheitsresistenz sowie Ertragspotential zu verbessern und vor allem seine Höhe auf etwa 100 Zentimeter zu begrenzen, erreicht Roggen trotz chemischer Wachstumsregler noch immer etwa 140 bis 150 Zentimeter und mehr. Das belegen Studien im Rahmen des kürzlich abgeschlossenen transnationalen Forschungsprojektes RYE-SUS, das die Europäischen Union aus Mitteln des Innovationsprogramms Horizon 2020 gefördert hatte.

Im aktuelle Sortenportfolio ist Roggen damit die längste Getreideart und geht dadurch auch schnell ins Lager, wie es in der Fachsprache heißt: Insbesondere nach Sturm oder Starkregen neigt er sich aus einem aufrechten Stand oder legt sich sogar vollständig auf den Boden. Selbst modernste Mähdrescher können dann die Ernte nicht ohne Verluste aufnehmen. Hinzu kommen Qualitätseinbußen, wenn die Körner in Bodennähe Feuchtigkeit aufnehmen.

Dabei ist Roggen ein Getreide mit großem Potenzial. Die züchterisch herausfordernde Fremdbefruchtung führt dazu, dass sich das Erbgut von einer Generation zur nächsten stark durchmischt. „Die stetig neue Kombination von Genen ermöglicht es dem Roggen, sich schnell anzupassen, wenn sich Umweltbedingungen verändern“, erläutert Hackauf – ein klarer Vorteil in Zeiten des Klimawandels, die durch zunehmende Extremwetterereignisse wie Dürren und Starkregen gekennzeichnet sind. „Es ist doch beruhigend zu wissen, dass wir mit Roggen noch sichere Erträge erzielen und Brot backen können, wenn Weizen längst die  Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht hat“, meint der JKI-Forscher. Ernährungsphysiologisch wertvoll ist Roggenbrot aufgrund seines hohen Anteils an Ballaststoffen obendrein. Für eine Renaissance des Roggens als Grundnahrungsmittel spricht die positive Wirkung seiner natürlichen Eigenschaften auf aktuelle Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes Typ II oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Getreidefeld, bei dem das Getreide im Vordergrund auf dem Boden liegt.
Ausgeprägte Standfestigkeit nach Starkniederschlagsereignissen in 2021 im Vergleich zu normalstrohigem Roggen im Vordergrund dokumentiert die Kernfunktionalität von Halbzwergen.

Besonders klimafreundliche Getreideart

Hackauf möchte deshalb dem Roggen aus der Nische zurück in die Fläche verhelfen. Immerhin bietet Roggen züchterisch seit langem einen grundlegenden Vorteil gegenüber Weizen: Beim Roggen ist es schon vor 50 Jahren gelungen, die Methode der Hybridzüchtung zu etablieren – eine Voraussetzung, an der Weizen- und Gerstezüchter heute intensiv arbeiten. „Die Hybridzüchtung trägt maßgeblich dazu bei, dass Roggen in der modernen Landwirtschaft wettbewerbsfähig bleibt, weil Landwirte Erträge erzielen, mit denen sich Roggen nicht hinter Weizen verstecken muss.“ Hybridsorten haben die Besonderheit, dass sich ihre Eltern genetisch stark unterscheiden. Das führt zum sogenannten Heterosis-Effekt, der mit einer besonders hohen Leistungsfähigkeit in der ersten Nachkommen-Generation einhergeht, ohne dass mehr Wasser oder Düngemittel aufgewandt werden müssen. Positiver Nebeneffekt sind um ein Fünftel geringere Treibhausgas-Emissionen je Hektar und ein um etwa acht Prozent geringerer CO2-Fußabdruck von Hybridroggen im Vergleich zu Weizen, wie Wissenschaftler am JKI in Zusammenarbeit mit der Universität Hohenheim und dem Bundessortenamt im Rahmen von RYE-SUS nachgewiesen haben. „Im Rahmen des Europäischen Grünen Deals ist die Ausweitung der Roggenanbauflächen eine wirkungsvolle Handlungsoption des Agrarsektors, um die EU zu einer nachhaltigen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Bioökonomie zu transformieren und sicherzustellen, dass bis 2050 keine Netto-Treibhausgasemissionen entstehen“, ist der Züchtungsforscher überzeugt.

In RYE-SUS hat Hackauf gemeinsam mit elf Partnern aus sieben Ländern die Hybridzüchtung genutzt, um die Halmlänge von Roggen genetisch zu reduzieren. Bereits vor 50 Jahren wurde in der Sammlung pflanzengenetischer Ressourcen am Vavilov-Institut in St. Petersburg ein kurzer Roggen beschrieben, dessen Halmlänge durch eine natürliche Genvariante kontrolliert wird. Bis 1989 versuchten Züchter im Volkseigenen Gut Petkus, 50 Kilometer südlich von Berlin, mittels klassischer Populationszüchtung diese Genvariante nutzbar zu machen. „Der Erfolg war überschaubar, denn das Material besaß nicht die Voraussetzung für eine Zulassung als Sorte“, berichtet Hackauf.

Damit eine neue Sorte vom Bundessortenamt anerkannt wird, muss sie drei Kriterien erfüllen: Erstens muss sie sich klar von bereits zugelassenen Sorten unterscheiden. Das ist bei Halbzwergen aufgrund der Halmlänge gegeben. Zweitens muss sie homogen sein – bei Halbzwergen dürfen also nicht einige Pflanzen normalwüchsig sein. Drittens muss die Sorte stabil sein, es dürfen also nicht mit den Generationen immer mehr Pflanzen die genetische Halmverkürzung verlieren.

Theoretische Überlegung stoppte die Kurzstrohzüchtung

Nach dem Fall der Mauer endeten diese Forschungsaktivitäten in Petkus aufgrund theoretischer Überlegungen zur potentiellen Wirkung des Kurzstrohgens auf das Wurzelsystem. Das Wurzelsystem ist für Roggen besonders wichtig, weil die anspruchslose Pflanze vor allem auf leichten und grundwasserfernen Böden angebaut wird. Auf solchen Standorten würde der anspruchsvolle Weizen nicht gedeihen. „Die verbreitete Annahme lautete, dass ein kürzerer Halm zu einer Schwächung des Wurzelsystem führt und dem Roggen damit die Kraft für sichere Erträge rauben würde“, erläutert Hackauf. „Aber das war eine rein theoretische Überlegung, es gab bis vor kurzem keine Daten, die diese Annahme stützen würden.“ Hinzu kommt, dass Zuchtprogramme in Osteuropa, anders als in Deutschland, diese Genvariante seit ihrer Entdeckung nutzen, allerdings ohne die moderne Hybridtechnologie, deren Etablierung dort noch nicht gelungen ist. „Wenn das mit der Genvariante alles so schlecht wäre, würden es die Kolleginnen und Kollegen in Ländern, in denen Roggen noch immer einen sehr großen Stellenwert als Nahrungsmittel besitzt, doch nicht machen“, schildert der JKI-Forscher seine Überlegungen.

Also hat das Forschungsteam zunächst ein Verfahren zur Erstellung genetischer Fingerabdrücke entwickelt, um schon wenige Tage nach der Aussaat bestimmen zu können, ob eine Roggenpflanze das Kurzstrohgen in sich trägt. Ohne solch ein molekulares Diagnoseverfahren müssen Züchter den ganzen Winter warten, da bei im Herbst gesätem Roggen erst ab Ende April erkennbar wird, wie hoch die Pflanze wächst. Dank des am JKI erzielten wissenschaftlichen Durchbruchs ließ sich das Kurzstrohgen in vergleichsweise kurzer Zeit in Elitezuchtsorten einkreuzen. „Damit hatten wir nach sechs Jahren Forschung und Entwicklung 2020 alle Voraussetzungen, um auf reinerbig kurzstrohigen Saatelternlinien erste Experimentalhybriden produzieren zu können“, erinnert sich Hackauf.

Kleine grüne Halme zwischen hohen strohigen Halmen
Lager zur Ernte führt zu Ertrags- und Qualtitätsverlusten bei Roggen. Durch die Nähe zum Boden beginnen die Körner vorzeitig zu keimen.

Weltpremiere für kurzstrohigen Hybridroggen

Im Jahr 2021 erfolgte die Weltpremiere: An 15 Standorten im Roggengürtel Europas sowie an zwei Standorten in Kanada wuchs erstmals kurzstrohiger Hybridroggen. Der Starkregen, der in jenem Jahr für viele Menschen in einer Katastrophe mündete, brachte für die Forschung einen wertvollen Erkenntnisgewinn: Auf den Versuchsfeldern wuchsen die neu entwickelten Halbzwerge neben genetisch nahezu identischem  normalstrohigem Roggen, der praxisüblich mit Wachstumsreglern behandelt wurde. „Wir konnten nach Starkregen mit mehr als 200 Litern pro Quadratmeter beobachten, dass die Normalstrohigen vollständig ins Lager gegangen sind. Die Halbzwerge standen wie eine Eins.“ Die perfekte Ergänzung lieferte das Folgejahr: 2022 erlebten die Versuchsfelder Dürren – und die Halbzwerge brachten eine hochsignifikant bessere Ertragsleistung als im Vorjahr.

Damit ist dem Team ein Zuchtfortschritt gelungen, der mehr als 30 Jahre auf sich warten ließ. Denn die Prototypen erfüllen alle Voraussetzungen für eine Sortenzulassung. „Wir sind davon überzeugt, dass der Roggen durch die natürliche Halmverkürzung für die Landwirtschaft attraktiver wird“, sagt Hackauf. Standfeste Sorten sparen bei der Ernte fossile Treibstoffe und die damit verbundenen CO2-Emissionen, weil sie nicht ins Lager gehen und der Mähdrescher schneller arbeiten kann. Sie sparen darüber hinaus CO2-Emissionen, weil die Ernte nicht nachgetrocknet werden muss.

Lieber robuste Erträge als ein paar Prozent mehr in der Spitze

Selbst wenn die ersten Prototypen die Spitzenerträge normalstrohiger Sorten noch nicht ganz erreichen, spricht die nachgewiesene Kernfunktionalität der Halbzwerge nach Starkregen und Dürre für eine Intensivierung ihrer züchterischen Bearbeitung. Denn die aktuellen Sorten sind das Ergebnis aus 50 Jahren züchterischer Arbeit zur Anpassung des Roggens an die Bedürfnisse von Landwirten, Verbrauchern und der Umwelt. Diesen Vorsprung gilt es nun mit den Halbzwergen aufzuholen.

„Welchen Wert besitzen ein paar Prozent mehr Ertrag von normalstrohigem Roggen, wenn dieser infolge von unvorhersehbaren Extremwetterereignissen nicht in der gewünschte Qualität geerntet werden kann?“, fragt der JKI-Forscher.  Ideen, welche Eigenschaften nun züchterisch intensiv bei diesem vollkommen neuen Sortentyp bearbeitet werden müssen, konnte der Züchtungsforscher im Rahmen von RYE-SUS reichlich sammeln. „Das Wurzelsystem von Halbzwergen wird jedenfalls nicht in unerwünschter Weise durch das Kurzstrohgen beeinträchtig. Diese Vorbehalte konnten wir nach aufwändiger Phänoytpisierung im Feld zweifelsfrei ausräumen“, stellt Hackauf zufrieden fest.

Das Forschungsprojekt hat somit den Machbarkeitsnachweis erbracht. Jetzt geht es darum, kurzstrohige Linien so zu optimieren, dass der Ertrag noch besser wird und Sorten mit definierten Kornqualitäten entwickelt werden, die etwa eine besonders gute Backfähigkeit besitzen oder maßgeschneidert sind für die Tierfütterung. Dann, so hofft der Wissenschaftler, könnte Roggen zusätzliche Attraktivität gewinnen und einen nachhaltigen Beitrag leisten, um die Nahrungsmittelversorgung in der Klimakrise zu sichern.

Autor: Björn Lohmann