Estland

Estland

Estland, das nördlichste Land der drei baltischen Staaten, hat sich im Jahr 2023 eine nationale Bioökonomiestrategie gegeben, die besonders die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft auf regionaler Ebene umsetzen möchte. 

Mit 1,3 Millionen Einwohnern und einer Fläche von rund 45.000 Quadratkilometern ist Estland das kleinste der drei baltischen Länder. Besonders die Land- und Forstwirtschaft sind als Sektoren für die Bioökonomie von Bedeutung. Aktuell wird geschätzt, dass ihr 30 % der estnischen Wirtschaft zuzuschreiben sind. Estland gehört mit seinem hohen Waldanteil von über 50 % zu den vier waldreichsten Ländern der EU, was zu einem erheblichen Holzexport führt. Die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder hat bereits dazu beigetragen, dass die Erträge stabil sind, und Estland investierte in den letzten Jahren in Technologien, die die Holzverarbeitung weiter optimierten. Schätzungen zufolge erwirtschaftet die Bioökonomie heute insgesamt 13 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) Estlands. 

Rechtliche und politische Grundlagen

Als EU-Mitglied ist auch Estland Teil der nachhaltigen Wachstumsstrategie der EU-Kommission, dem European Green Deal, die das Ziel verfolgt, Europa bis zum Jahr 2050 zum klimaneutralen Kontinent zu machen.  

Mit der Circular Bioeconomy Roadmap Estonia hat Estland im Jahr 2023 seine eigene nationale Bioökonomiestrategie veröffentlicht. Erarbeitet wurde sie vom estnischen Ministerium für regionale Angelegenheiten und Landwirtschaft.

Die Roadmap konzentriert sich auf die Entwicklung einer zirkulären Bioökonomie, in der Kreislaufwirtschaftsprinzipien für ein ressourceneffizientes und nachhaltiges Wirtschaften integriert sind. Beispielsweise sollen importierte rohölbasierte Produkte langfristig durch lokale, nachhaltige und biologische Erzeugnisse ersetzt werden.  

Die nationale Strategie dient als Grundlage für die Erstellung regionaler Bioökonomie-Roadmaps. Dabei spielen Aspekte wie lokale Bioressourcen, Bedürfnisse und Möglichkeiten der Gemeinden sowie lokale Initiativen und Kooperationsformen eine wichtige Rolle. Insgesamt will die Roadmap eine kreislaufbasierte Bioökonomie vorantreiben und zu Wertschöpfung und Wirtschaftswachstum beitragen.  

Aktuell exportiert das Land viele Produkte aus der Holz- und Landwirtschaft und steht damit zumeist am Beginn der Wertschöpfungskette. Dies soll durch den Ausbau von Verarbeitungskapazitäten und neuen Anwendungsgebieten erweitert werden. Außerdem muss das Energiesystem bei erwartet steigender Nachfrage umgewandelt werden. Derzeit dominieren hier noch fossile Brennstoffe. Aktuell werden rund 50 % der Holzproduktion zur Energie- und Wärmeherstellung verbrannt. In Zukunft soll dieses Material für höherwertige Produkte Anwendung finden.

Die Fischerei spielt in der estnischen Wirtschaft eine relativ kleine Rolle. Besonders in den Küstenregionen und auf den Inseln ist Fischfang von Bedeutung, wo es oft wenige wirtschaftliche Alternativen gibt. Neben Fischerei könnten Algen in Zukunft eine Rolle spielen, da man diese beispielweise als Dünger für die Landwirtschaft einsetzen kann.  

Neben der Circular Bioeconomy Roadmap gibt es eine Reihe weiterer Strategien, die sich mit der Stärkung des Bioökonomie-Sektors befassen. Mit Estonia 2035 veröffentlichte die Regierung im Jahr 2022 eine Zukunftsstrategie mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten, in denen Estland sich besonders engagieren und eine Vorreiterrolle in Europa einnehmen möchte. Darin wird das Thema Bioökonomie als ein Schwerpunkt hervorgehoben.  

Auch sollen in der akademischen Lehre und Forschung Bioökonomie-Themen mehr Einzug finden, wie im Development Plan for Research and Development, Innovation and Entrepreneurship (RDIE) 2021-2035 festgehalten wurde. Zudem sind für die Entwicklung der estländischen Bioökonomie noch der Forestry Development Plan sowie der Energy Development Plan 2035 mit Holz und Biogas als relevante Energieträger nennenswert.

Bis 2025 soll ein sogenanntes Climate Law verabschiedet werden, welches die Ziele der EU wie etwa den Schutz von 30 % der Land- und Wasserflächen und eine Klimaneutralität bis 2045 beinhaltet. Gerade im Chemiebereich wird dies viele Veränderungen mit sich bringen, da dieser noch stark auf erdölbasierte Prozesse ausgelegt ist. Neben der vermehrten Nutzung von erneuerbarer Energie wird damit auch die Verwendung nachwachsender Rohstoffe in den Fokus gerückt.

Unternehmenslandschaft

Die Wirtschaft in Estland beruht zu großen Teilen auf der Forstwirtschaft, wobei das Land bei Produkten wie Holzpellets, Möbeln und Fertighäusern große Marktanteile in Europa besitzt. Der Landwirtschaftssektor ist beinahe ebenso bedeutend und liefert vor allem Milch- und Fleischprodukte, Obst und Gemüse, Futterpflanzen, Kartoffeln und Getreide.  

Hinzu kommt eine Schwer- und Chemieindustrie, die auf Schieferöl basiert und durch ihren hohen Energieverbrauch und negativen Umwelteinfluss vor einem weitreichenden Transformationsprozess steht. In den 1990er Jahren war Estland durch seinen Informationssektor groß geworden, der auch heute noch in Form vieler innovativer Start-ups in allen Bereichen der Wirtschaft präsent ist.  

Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei

Rund 82 % Estlands werden als ländliche Gebiete eingestuft, in denen 44,5 % der Bevölkerung leben. Wälder bedecken rund die Hälfte der Landesfläche landwirtschaftliche Flächen fast ein Viertel. Der Primärsektor (Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei) macht etwa 2,5 % der gesamten Bruttowertschöpfung Estlands aus, was über dem EU-Durchschnitt liegt. Landwirtschaftliche Flächen werden größtenteils mit extensiven Techniken bewirtschaftet. Etwa 23 % davon werden aktuell biologisch betrieben. Im Zuge der Gemeinsamen Agrarpolitik (CAP; Common Agricultural Policy) der EU verfolgt Estland das Ziel, einen nachhaltigen, wettbewerbsfähigen und diversifizierten Agrarsektor aufzubauen, der Ernährungssicherheit gewährleistet und zum Schutz von Klima und Biodiversität beiträgt. Knapp 730 Mio. Euro (etwa 45 % der gesamten CAP-Mittel für Estland) kommen ländlichen Betrieben als Einkommensunterstützung zugute.  

Obwohl Estland über ein gut etabliertes öffentliches landwirtschaftliches Forschungs- und Bildungssystem verfügt, ist die Gesamtstruktur des Agrarischen Wissens- und Informationssystems (AKIS) zersplittert, ohne eine zentrale Koordinationsstelle für Innovation und Wissensentwicklung. Estland hat daher begonnen, die Stärkung der Informationsflüsse zwischen den verschiedenen AKIS-Akteuren durch die Einrichtung eines spezialisierten Entwicklungszentrums zu unterstützen.

Im Bereich der holzverarbeitenden Industrie gehört Estland zu den führenden Staaten weltweit. Durch die Forstwirtschaft entstehen große Mengen an Reststoffen, etwa in Sägewerken. Mit Mitteln des europäischen Bio Based Industries Joint Undertaking hat das Unternehmen Fibenol eine Großanlage zur Verwertung dieser Reststoffe zu Produkten aufgebaut, die Teile der erdölbasierten Wertschöpfungskette ersetzen können. Dabei reicht die Bandbreite von Grundstoffen wie Cellulose für die Industrie bis zu Chemikalien.  

Das für die Papierproduktion benötigte Zellstoffmaterial wird von AS Estonian Cell in Kunda im großen Stil für globale Absatzmärkte produziert. Das Unternehmen mit der Heinzel Group als Muttergesellschaft hat sich auf die chemisch-thermomechanische Herstellung von Espen-Zellstoff spezialisiert. Estonian Cell betreibt zudem Europas größten Biogasreaktor, um die Produktion möglichst nachhaltig zu gestalten.

Die Fischerei, wenn auch ein kleinerer Sektor, hat in Estland eine lange Tradition. Unternehmen wie AS Tallinna Kalatööstus setzen auf nachhaltige Praktiken, um lokale Fischarten wie Hering und Makrele umweltfreundlich zu verarbeiten. Die estnische Regierung unterstützt diese Bemühungen durch Mittel aus dem Europäischen Meeresfonds (EMFF), der Projekte zur Bekämpfung von Überfischung und zur Förderung nachhaltiger Fangmethoden finanziert.

Die Estonian Fishermen's Federation spielt eine zentrale Rolle bei der Interessensvertretung der Fischer und fördert umweltfreundliche Fangmethoden. Im Bereich der Aquakultur hat Eesti Aquaculture innovative Techniken zur Aufzucht von Fischarten wie Forelle entwickelt, unterstützt durch nationale Programme zur Förderung nachhaltiger Aquakultur. Die Forschung im Bereich der Fischerei wird durch das Estonian Marine Institute vorangetrieben, das Projekte zur Überwachung der Fischbestände und zur Analyse der Auswirkungen des Klimawandels auf marine Ökosysteme durchführt. Durch diese politischen Initiativen möchte Estland die Fischerei nachhaltig gestalten und die natürlichen Ressourcen schützen.

Lebensmittelindustrie

Die Lebensmittelindustrie ist ein zentraler Bestandteil der estnischen Bioökonomie. Sie zielt vor allem darauf ab, nachhaltige und innovative Lösungen aus natürlichen Ressourcen zu entwickeln. Ein Fokus liegt dabei auf der Nutzung von Abfallstoffen aus der Forst- und Landwirtschaft, um die Kreislaufwirtschaft zu fördern und die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen zu reduzieren. Innovative Start-ups und Unternehmen in diesem Sektor setzen auf fortschrittliche Technologien, um biobasierte Produkte zu entwickeln, die sowohl ökologisch als auch ökonomisch nachhaltig sind.

Das Biotechnologieunternehmen ÄIO nutzt Fermentation zur Herstellung von Fettsäuren, Antioxidantien und Pigment. So entstehen aus Abfallstoffen der Forst- und Landwirtschaft Produkte, die Alternativen zu Palm-, Kokos- und tierischem Fett darstellen. Durch die Optimierung solcher Bioprozesse können Lösungen für verschiedene Bereiche in der Lebensmittel- und Kosmetikindustrie entwickelt werden. Das Start-up Nutriloop, sammelt Speisereste und andere organische Reststoffe, um sie mithilfe von Bakterien und Würmern zu hochwertigem Kompost für die Landwirtschaft umzuwandeln. Dadurch soll auch die Abhängigkeit von konventionellen Düngemitteln reduziert werden.

Biotechnologie

Der Biotechnologiesektor umfasst in Estland verschiedene Anwendungen – von der Lebensmittelproduktion über die pharmazeutische Industrie bis hin zur Umwelttechnologie. Durch den Einsatz fortschrittlicher Verfahren und Materialien wird die Entwicklung von biobasierten Produkten gefördert.

Beispielsweise werden Nanofasern hergestellt, um Strukturen für Zellkulturen und kultiviertes Fleisch zu produzieren. Gelatex spinnt solche Fasern zu einem Gerüst, in dem die Zellen Halt finden und damit die für Fleisch typische Textur und Struktur entwickeln. Besonderer Vorteil ist hier, dass die Zellen nicht wie in einer Petrischale zweidimensional, sondern dreidimensional in der Struktur der Fasern wachsen können. Neben der Lebensmittelindustrie ist damit auch die Anwendung in der medizinischen Biotechnologie im Bereich Stammzell- und Medikamentenforschung möglich. BioCC konzentriert sich auf die Nutzung nachhaltiger Rohstoffe und spielt eine Schlüsselrolle in den Sektoren Lebensmittelproduktion und Umwelttechnologie.  

Energiewirtschaft

Estland setzt in seiner Energiewirtschaft stark auf die Nutzung von Biomasse, besonders Holzbiomasse, um erneuerbare Energiequellen auszubauen. Biomasse macht einen bedeutenden Teil des estnischen Energiemix aus, insbesondere in der Wärme- und Stromerzeugung. Im Jahr 2021 wurden rund die Hälfte der erneuerbaren Energien des Landes durch die Nutzung von Holz und anderen biobasierten Brennstoffen erzeugt.  

Mit Graanul Invest ist in Estland Europas größter Produzent von Holzpellets ansässig. Jährlich werden 2,34 Millionen Tonnen Pellets hergestellt, welche zur Strom- und Wärmeerzeugung genutzt werden können. Dabei ist die Nähe zu den Holzproduzenten besonders wichtig, um Reststoffe wie Rinden, Sägemehl und Holzabfälle zu nutzen. Estland spielt insgesamt eine führende Rolle in der europäischen Bioenergieproduktion, mit einer stetig wachsenden Kapazität im Bereich der Biomasse- und Holzpelletproduktion.

Informationstechnik

Estland ist für seine Vorreiterrolle im Bereich der E-Government-Dienste bekannt. Diese Expertise kommt auch der Bioökonomie zugute. Digitale Plattformen ermöglichen es etwa Land- und Forstwirten, ihre Prozesse zu optimieren und von der Vernetzung mit anderen Marktteilnehmern zu profitieren. Solche Plattformen bieten Werkzeuge zur Überwachung der Ressourcennutzung und zur Einhaltung von Umweltstandards, wodurch sich die Effizienz und Transparenz erhöhen.  

Start-ups wie Timbeter nutzen nicht nur kamerabasierte Lösungen zur Effizienzsteigerung von Holzverarbeitungsprozessen, sondern setzen auch auf Maschinelles Lernen und Big Data, um ihr Ressourcenmanagement zu verbessern.

Neben Kameratechnologie setzt Estland verstärkt auf den Einsatz von Drohnen und Satellitenüberwachung in der Forst- und Landwirtschaft. Dazu zählen Unternehmen wie E-Agronom. 

Forschungslandschaft

Die estnische Regierung investiert stark in Forschung und Entwicklung, um die Bioökonomie weiter auszubauen. Bis 2027 sind im Rahmen des Forschungsrahmenprogramms Horizon Europe Fördermittel in Höhe von 300 Mio. Euro vorgesehen, um Projekte im Bereich Bioökonomie, Landwirtschaft und nachhaltige Ressourcen zu unterstützen​. Zusätzlich hat Estland eine nationale Förderung von 50 Mio. Euro für Start-ups und Unternehmen bereitgestellt, die innovative biobasierte Technologien entwickeln.

Die Informationstechnologien und Lebenswissenschaften gelten als zukunftsweisende Forschungsfelder für das Land. Die estländischen Universitäten und Institute sind europäisch gut vernetzt und können insbesondere zusammen mit Partnern aus Finnland und dem restlichen Baltikum europäische Fördergelder einwerben. Der Estonian Research Council spielt eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung und Unterstützung von Forschungsprojekten in der Bioökonomie und fördert die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Einrichtungen.

Universitäre Forschung

An der Estnischen Universität für Lebenswissenschaften hat sich das Zentrum für Bioökonomie etabliert, das die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen und das Leben und Wirtschaften im ländlichen Raum erforscht. Außerdem ist das Zentrum durch gemeinsame Projekte europaweit vernetzt und berät die Regierung bei der Implementierung von Maßnahmen im Bioökonomiebereich.

Die Tallinn University of Technology (TalTech) ist die einzige technische Universität in Estland. Am Fachbereich für Chemie und Biotechnologie werden Studierende in verschiedenen Bereichen der Bioökonomie ausgebildet. Wissenschaftliche Teams arbeiten gemeinsam mit der Industrie unter anderem an der Entwicklung von Biopolymeren und anderen Hightech-Materialien aus Holz und Industrieabfällen.

Außeruniversitäre Forschung

Das Nationale Institut für Chemische Physik und Biophysik ist eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die Grundlagenforschung betreibt. Zu den Fokusthemen zählen die biologische Reinigung von Abwasser und die Untersuchung toxikologischer Auswirkungen von Stoffen auf die Umwelt. Die Estonian Agricultural University konzentriert sich auf nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken und innovative Technologien zur Ressourcennutzung.  

Darüber hinaus trägt der Tallinn Science Park Tehnopol zur Förderung von Start-ups im Bereich Bioökonomie bei. Hier werden Innovationsressourcen bereitgestellt und Kooperationen zwischen Industrie und Wissenschaft unterstützt.