Egal ob technische Enzyme oder Medikamente gegen Krebs – proteinbasierte Produkte sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Um diese industriell herzustellen, lassen Biotechnologen bislang lebende Zellen oder Mikrooganismen in zum Teil riesigen Bioreaktoren für sich arbeiten. Mithilfe gentechnischer Methoden werden diese Minifabriken darauf getrimmt, die großen Biomoleküle mitsamt ihrer dreidimensionalen Form zu produzieren, denn ein chemischer Nachbau ist nicht möglich.
Auf diese Weise entstehen etwa Medikamente für Millionen von Patienten, die an der Zuckerkrankheit leiden (Diabetes). Das für diese Therapie genutzte Insulin wird in gentechnisch veränderten Bakterien und Säugetierzellen hergestellt.
Die Bedeutung derartig hergestellter Medikamente ist groß: Mehr als 100 solcher Arzneien gibt es inzwischen auf dem Markt. So werden biotechnologische Impfstoffe zur Prävention von Krankheiten verwendet oder Antikörper zur Behandlung von Patienten mit Immun- oder Krebserkrankungen eingesetzt. Nach den USA ist Deutschland weltweit der größte Produktionsstandort für biotechnologisch hergestellte Medikamente. Darüber hinaus entstehen viele verschiedene technische Enzyme mithilfe der Biotechnologie, die ihren Einsatz zum Beispiel bei Fermentationsprozessen und der Herstellung von Feinchemikalien finden.
Biotechnologischer Herstellungsprozess bisher hochkomplex
Der Herstellungsprozess für solche Enzyme und proteinbasierte Produkte ist jedoch hochkomplex. Denn die Mikroorganismen und Zellen stellen nicht nur das gewünschte Protein her. „Sie sind permanent damit beschäftigt, sich selbst am Leben zu halten und produzieren daher ständig Proteine, die man in der Industrie gar nicht braucht“, erläutert Stefan Kubick, Gruppenleiter am IBMT in Potsdam. Für Biotechnologen erschwert das die Arbeit enorm: Sie müssen zum einen komplizierte gentechnische Umprogrammierungsmethoden anwenden, damit die lebenden Fabriken möglichst viele Zielproteine und möglichst wenige unnütze herstellen. Zum anderen kommen aufwendige Aufreinigungsverfahren zum Einsatz, mit denen sich aus der Suppe an Proteinen, Zelltrümmern und vielen weiteren Substanzen die eigentlichen Proteine herausfischen lassen.
Als Vision der Biotechnologie der Zukunft gibt es deshalb eine andere Idee: die lebenden Zellen und Mikroorganismen technisch nachbauen – mit zellfreien Produktionsmethoden. Einen solchen Weg wollen Biologen, Physiker, Maschinenbauer und Elektroniker aus acht Fraunhofer-Instituten aus den Life Sciences, der Produktion und Mikroelektronik nun im Verbund “Biomoleküle vom Band“ beschreiten. „Hierfür wird eine enge Zusammenarbeit von Biowissenschaftlern auf der einen und Ingenieuren auf der anderen Seite gebraucht. Bei Fraunhofer hat sich das Modell der interdisziplinären Zusammenarbeit entlang der Wert- schöpfungskette als Systemforschung bereits bewährt", sagte Ulrich Buller, Forschungsvorstand der Fraunhofer-Gesellschaft, beim offiziellen Start des Verbundprojektes am 17. März 2011 in Berlin. Insgesamt 6 Millionen Euro will man im Rahmen der eigenen Systemforschung investieren, um im Verbund von acht Fraunhofer-Instituten die Entwicklung einer Bioproduktion von morgen voranzutreiben. Im Rahmen des Strategieprozesses "Biotechnologie 2020+" stellt das BMBF in den nächsten drei Jahren weitere 15 Millionen zur Verfügung. „Die Biotechnologie kann viele Möglichkeiten aufzeigen, wie in Deutschland der Wandel in eine biobasierte Wirtschaft gelingen kann“, betonte Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium. Langfristige Förderinitiativen wie der im Sommer 2010 gestartete Strategieprozess seien dabei eine gute Möglichkeit, die richtigen Leute mit den richtigen Ideen zusammenzubringen.
Den Zellen die Kompetenz rauben, eigenständig zu arbeiten
Um die Vision einer zellfreien Bioproduktion zu verwirklichen, haben die Forscher um Frank Bier und Stefan Kubick bereits erste Ansätze entwickelt. „Wir wollen den Zellen ihre Kompetenz rauben, eigenständig und nach ihrem Bedarf Proteine zu bauen“, erläutert IBMT-Forscher Kubick. Aus diesem Grund wird ihnen die Zellwand genommen und der Motor der Proteinproduktion – der Zellkern – entfernt. „Wir wollen die Zellproduktion in Kompartimente modulartig aufteilen: die eigentliche Proteinsynthese, die anschließende Weiterverarbeitung und die Energiebereitstellung“, beschreibt Kubick die für die Proteinproduktion wichtigsten Komponenten. Diese Module sollen zunächst getrennt voneinander für den industriellen Maßstab entwickelt und anschließend zusammengefügt werden. Für die Proteinsynthese beispielsweise werden nur die biologischen Proteinfabriken, die Ribosomen, gebraucht. Denen wird das Baumaterial in Form von Aminosäuren – den Bausteinen, aus denen Eiweiße bestehen – sowie der Bauplan des gewünschten Proteins – in Form von entsprechenden RNA-Matrizen – hinzugefügt. „All das könnte zukünftig in kontinuierlich ablaufenden Prozessen in mikrofluidischen Systemen bewerkstelligt werden", so Kubick. Im Ergebnis würde auf diesen chipbasierten Mikrosystemen neben der eigentlichen Proteinsynthese auch die Immobilisierung und Aufreinigung der gewünschten Proteine sowie die notwendige Energieregeneration für den Gesamtprozess erfolgen.
Proteinmanufaktur mit anliegendem Energiekraftwerk
Das System verzichtet dabei auf lebensfähige, gentechnisch veränderte Zellen oder Organismen (GVOs) - für die Forscher ein großer Vorteil. „Die Verfahren können damit überall – auch in technischen Umgebungen – problemlos eingesetzt werden, weil die für GVO sonst üblichen strengen Bestimmungen des Gentechnikgesetzes nicht relevant sind“, so Kubick. Der größte Knackpunkt ist jedoch die Bereitstellung der entsprechenden Energie. In biologischen Systemen wird diese Energie über Adenosintriphosphat (ATP) bereitgestellt. Die chemische Spaltung der Verbindung setzt Energie frei – für fast alle grundlegenden energieverbrauchenden Prozesse aller Lebewesen wird ATP als Energieträger genutzt. „Täglich produziert jeder Mensch in etwa die Hälfte seines Körpergewichtes an ATP“, so Frank Bier, Leiter des IBMT. Denn im Organismus wird es ununterbrochen benötigt: Aufbau und Spaltung stehen daher im Gleichgewicht.
Wer ATP für einen industriellen Prozess in großen Maßstab braucht, hat jedoch ein Problem. „ATP wird industriell kaum produziert“, sagt Bier. Aus diesem Grund wollen die Fraunhofer-Forscher deshalb ein System entwickeln, das wie in einer Kreislaufwirtschaft das nötige ATP selbst bereitstellt. „Wir stellen uns eine Proteinmanufaktur mit direkt anliegendem Energiekraftwerk vor“, sagt Kubick. Dafür jedoch liegt jedoch noch viel Arbeit vor den Wissenschaftler. Denn für ein funktionierendes Kraftwerk ist ein biologischer Helfer nötig: die ATP-Synthase. Dabei handelt es sich jedoch um ein Protein, welches normalerweise in der inneren Membran von Mitochondrien sitzt oder in einer anderen Form in der Plasmamembran von Bakterien zu finden ist. Derartige Membranproteine herzustellen und in technische Systeme zu integrieren, ist eine große Herausforderung. „Das Protein ist ziemlich komplex aufgebaut. Dieses zellfrei in seiner aktiven Form herzustellen, ist eine echte Herausforderung“, so Kubick.
Zellfreie Produktion: ein großes Potential
Bei anderen Membranproteinen sind den Forschern aber bereits Fortschritte gelungen. Diese Moleküle kommen aber nicht nur für die Energiebereitstellung in Frage. So sind bestimmte Membranproteine, wie etwa die G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, im menschlichen Körper für viele Prozesse verantwortlich. Beispielsweise sind sie verantwortlich für die Übermittlung von Licht-, Geruchs- oder Geschmacksreizen. Sie dienen dabei als Andockstation der Zelle – Botenstoffe von außerhalb der Zelle können spezifisch an die Proteine binden und somit Reaktionskaskaden innerhalb der Zelle auslösen. Daher spielen Membranproteine auch eine entscheidende Rolle bei vielen Krankheiten, etwa bei Entzündungsprozessen. In der modernen Medizin nehmen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren eine Schlüsselposition ein: Mehr als die Hälfte aller verschreibungspflichtigen Medikamente, die derzeit auf dem Markt sind, wirken auf diese speziellen Protein-gekoppelten Rezeptoren. Die Wirkung zwischen solchen Rezeptoren und neuen Medikamenten zu testen, ist jedoch gar nicht so einfach. „Bislang können viele Membranproteine nicht oder nur unzureichend in lebenden Zellen hergestellt werden“, sagt Kubick. Aus Erfahrung weiß er: Kommt es zu einer übersteigerten Bildung von Membranproteinen, dann entstehen toxische Effekte in den eingesetzten zellbasierten Systemen. Kubick sieht deshalb in der zellfreien Produktion ein großes Potenzial für neuartige Aktivitätsassays und Screeningsysteme für pharmakologisch relevante Membranproteine. Aber auch die Herstellung von Proteinen mit definierten Zuckerstrukturen, die in der Medizin immer häufiger als Medikamente zum Einsatz kommen, ist aus Sicht der Fraunhofer-Forscher interessant.