„Hidden Champion“ ist vielleicht der beste Begriff, um zu beschreiben, was sich in den vergangenen fünf Jahren im Bonner Umland entwickelt hat: Auch wenn die Firma Jennewein Biotechnologie GmbH – noch – nicht den Umsatz erreicht, der in der Regel mit einem „Hidden Champion“ verbunden wird, so erfüllt das junge Unternehmen mit derzeit 94 Mitarbeitern doch so ziemlich alle anderen Kriterien. Nur „versteckt“ kann man den in Rheinbreitbach ansässigen Hersteller besonderer humaner Zuckermoleküle als Zusatz für Nahrungsmittel, insbesondere für Säuglingsnahrung, spätestens seit seiner jüngsten Akquise nicht mehr nennen. „Wir möchten nicht weniger als die größte Fermentationsanlage der letzten Jahrzehnte bauen“, beschreibt Firmengründer Stefan Jennewein die aktuellen Wachstumspläne nicht ohne Stolz.
2005 gegründet mit einer mutigen Idee
Begonnen hat die rasante Entwicklung des Unternehmens im Gründungsjahr 2005. Jennewein wollte mithilfe der Biotechnologie humane Milch-Oligosaccharide herstellen. „Humane Milch-Oligosaccharide stellen den drittgrößten Bestandteil der Muttermilch dar, nach Lactose und Fetten. Diese sogenannten HMOs wurden vor über hundert Jahren auf Grundlage der Beobachtung entdeckt, dass gestillte Säuglinge eine siebenmal höhere Überlebenschance haben als mit damaliger Babynahrung gefütterte Säuglinge“, schildert Jennewein. Heute weiß man, dass diese speziellen Mehrfachzucker dem Baby helfen, eine gesunde Darmflora zu entwickeln und gleichzeitig das Risiko bestimmter Infektionen wie beispielsweise mit dem Norovirus verringern.
Die chemische Industrie scheitert seit Jahrzehnten daran, diese komplexen Moleküle im industriellen Maßstab künstlich herzustellen, um sie Säuglingsnahrung beifügen zu können. „Sie aus der Muttermilch zu gewinnen, wäre unethisch, man müsste sie ja einem Säugling wegnehmen“, schließt Jennewein diesen zweiten Ansatz aus – zumal auf diesem Weg Krankheiten übertragen werden könnten. Auch der Biotechnologie wollten viele nicht zutrauen, die Herausforderung technisch und obendrein profitabel zu bewältigen. „2005 haben wir unser Vorhaben mehreren Säuglingsnahrungsherstellern vorgestellt, damals wurde mir gesagt, dass ich das Thema vergessen sollte, denn es wäre unmöglich, humane Milchzucker biotechnologisch herzustellen“, erinnert sich der Firmenchef. Er machte sich dennoch daran.
Bundesforschungsministerium fördert die Entwicklung früh
Das Bundesforschungsministerium (BMBF) glaubte an das Potenzial und unterstützte Jennewein Biotechnologie von 2008 bis 2012 mit 1,1 Mio. Euro aus der Förderinitiative „BioChancePlus“. Das junge Unternehmen konzentrierte sich auf das humane Milch-Oligosaccharid 2‘-Fucosyllactose. Die Forscher funktionierten Bakterien zu Zellfabriken um, die mithilfe einer speziellen Enzymausstattung die schwierige Aufgabe der Zuckerherstellung fortan bewältigen können. Die harmlosen Mikroorganismen sondern das fertige Produkt ab, sodass es anschließend nur noch aus der Nährlösung herausgefiltert werden muss. Als „Futter“ für die Mikroorganismen kommen Zucker aus erneuerbaren Quellen zum Einsatz – ein schonendes, energiearmes, umweltfreundliches und gesundheitlich unbedenkliches Verfahren.
Der Erfolg überzeugte das BMBF erneut, sodass das Ministerium im Anschluss an die erste Förderung noch einmal rund 1 Mio. Euro aus der Fördermaßnahme „KMU-innovativ Biotechnologie“ für die Jahre bis 2015 bereitstellte. Mit diesem Geld wollte Jennewein weitere Enzyme, sogenannte Glycosyltransferasen identifizieren, um zusätzliche der rund einhundert unterschiedlichen humanen Milch-Oligosaccharide auf biotechnologischem Weg zu produzieren. Mit Erfolg: „Auf der Basis können wir nun acht weitere humane Mehrfachmilchzucker herstellen“, resümiert Jennewein die Forschungsergebnisse.
In Metallsilos lagert der Rohstoff für die biotechnologische Produktion der Zuckermoleküle. Geschäftsführer Stefan Jennewein (links) und Produktionsleiter Ingmar Bürstel.
Parallel dazu hat das rheinland-pfälzische Unternehmen aufklären können, wie die 2‘-Fucosyllactose vor Noroviren schützt. 2014 knüpfte daran ein weiteres „KMU-innovativ“-Projekt an, diesmal in Kooperation mit der Kinderklinik Mannheim und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Mit der Förderung in Höhe von 821.000 Euro gingen die Partner der gesundheitsfördernden Wirkung von Oligosacchariden auf den Grund.
Rückblickend auf die ersten zehn Jahre seines Unternehmens sagt Jennewein: „Ohne das BMBF hätte ich es nicht geschafft. Leider schätzen viele Investoren in Europa die Biotechnologie wenig, obwohl sich hier heute meiner Meinung nach Chancen vergleichbar zur IT-Industrie in den 1950er Jahren bieten.“
Industrielle Produktion ab 2015
In den vergangenen drei Jahren hat sich Jennewein Biotechnologie geradezu rasant entwickelt. 2015 gelingt ein wichtiger Meilenstein: Im November erhält die Firma in den USA die Zulassung von der FDA für ihr erstes Produkt, die 2‘-Fucosyllactose, zur Anwendung in Baby- und Kleinkindernahrung. Unterstützt durch einen Zehn-Millionen-Euro-Kredit der Europäischen Investitionsbank beginnt die Produktion im industriellen Maßstab. Das Produkt weckt in den Vereinigten Staaten schnell die Aufmerksamkeit der großen Babynahrungshersteller. „Alle bedeutenden Babynahrungsmarken setzen die 2‘-Fucosyllactose mittlerweile im US-Markt ein“, sagt Jennewein heute.
In Europa gestaltet sich das Zulassung des humanen Milchzuckers wie erwartet schwieriger. Doch zwei Jahre später, am 25. September 2017, bewilligt auch die Europäische Kommission die Zulassung der 2‘-Fucosyllactose als Lebensmittelzusatz für die Europäischen Union. Damit ist der Mehrfachzucker das erste humane Milch-Oligosaccharid, das eine Zulassung gemäß der Novel-Food-Verordnung erhalten hat. „Diese Novel-Food-Zulassung ist nicht nur ein Meilenstein in der Geschichte der Biotechnologie, sondern auch ein großer Durchbruch für die künftige Entwicklung der Säuglingsnahrung“, so Stefan Jennewein. Weitere Länder wie Israel und Singapur haben zu diesem Zeitpunkt die Fucosyllactose der Rheinbreitbacher bereits zugelassen. Bis heute sind zahlreiche weitere Nationen, darunter auch Kanada hinzugekommen – Tendenz steigend.
2018 würdigt das Heimat-Bundesland des aufstrebenden Unternehmens dessen Erfolg mit dem Innovationspreis Rheinland-Pfalz. „Besonders beeindruckt hat die Jury die rasche Marktdurchdringung, die mit dem Verfahren erreicht wurde“, heißt es in der Begründung der Jury zur Preisvergabe.
Cocktail aus fünf Milchzuckern im Test
Zunächst aber intensiviert Jennewein Biotechnologie einmal mehr die Forschungsanstrengungen und beginnt die erste klinische Studie zu der von ihr entwickelten Säuglingsanfangsnahrung. Das Produkt enthält diesmal nicht nur Fucosyllactose, sondern fünf unterschiedliche Mehrfachzucker aus der Muttermilch, die das Unternehmen auf biotechnologischem Weg herstellt. Die Studie soll in erster Linie nachweisen, dass das Präparat für die Ernährung von Säuglingen geeignet und für diese gut verträglich ist – zwingende Voraussetzung für die Zulassung in der Europäischen Union. Zusätzlich soll die Studie herausfinden, ob sich die Darmflora der Säuglinge gegenüber Säuglingsnahrung ohne humane Milch-Oligosaccharide tatsächlich besser entwickelt.
Neues Forschungszentrum und Produktionsstätte
In der zweiten Jahreshälfte 2018 geht es Schlag auf Schlag. Zunächst erhält Jennewein Biotechnologie von der Europäischen Investitionsbank einen Kredit über 15 Mio.Euro. Zum einen will das Unternehmen damit die Produktionskapazitäten am Stammsitz ausbauen. Zum anderen soll auf einem tausend Quadratmeter großen Grundstück in Bad Godesberg ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum entstehen. Der dortige Schwerpunkt soll auf der Mikrobiom-Forschung und synthetischen Designer-Mikroorganismen liegen.
Im Oktober dann kauft Jennewein Biotechnologie im nahe gelegenen Bad Hönningen die ehemalige Betriebsstätte des Getränkeherstellers Artus Mineralquellen, um die Produktion der humanen Milch-Oligosaccharide auszubauen. Fünf dieser Mehrfachzucker sollen dort produziert werden, jeder eine eigene Produktionslinie erhalten. Die künftigen Fermenter werden jeweils mehr als 200 Kubikmeter umfassen. Damit wird das neue Werk zu einem der größten Fermentationsbetriebe Mitteleuropas. Geschäftsführer Jennewein gibt sich ambitioniert: „Wir haben uns das Ziel gesetzt, sämtliche Säuglingsnahrungsprodukte mit humanen Milch-Oligosacchariden anzureichern, damit alle Babys von den gesundheitlichen Vorteilen von HMOs profitieren.“
Breiter aufstellen für die Zukunft
Die Pläne für die Zukunft gehen jedoch weit über Säuglingsnahrung hinaus. „Gleichzeitig wollen wir neue Märkte erschließen wie Medical Nutrition, die Krankenhausernährung. Krebspatienten haben nach einer Chemotherapie ein geschwächtes Immunsystem und eine zerstörte Darmflora. Auch diese Patienten können von einer Stärkung des Mikrobioms profitieren“, erläutert Jennewein. Und auch die Kosmetik und die Tiernahrungsbranche haben die Biotechnologen als mögliche Kunden für ihre biologisch aktiven Inhaltsstoffe im Sinn.
Autor: Björn Lohmann