Ökosysteme: Momentaufnahme greift zu kurz
Zur Beurteilung eines Ökosystems kommt es darauf an, die Artenzusammensetzung über längere Zeiträume zu beobachten. Zu diesem Schluss kommen Oldenburger Biodiversitätsforscher.
Ein intaktes Ökosystem basiert auf komplexen Interaktionen zwischen all seinen diversen Bewohnern über einen längeren Zeitraum hinweg. Untersucht man also nur eine Momentaufnahme, oder wie sich die Zahl der Arten kurzfristig verändert, kann dies zu falschen Schlüssen führen. Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Helmut Hillebrand vom Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität (HIFMB) an der Universität Oldenburg und von dem Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) hat untersucht, wie der Zustand eines gesamten Ökosystems am besten ermittelt und berechnet werden kann. Basierend auf einem neuen mathematischen Modell kamen sie zu dem Schluss, dass die Gesamtfluktuation der Arten in einem System berücksichtigt werden muss. Ihre Ergebnisse haben sie im Fachmagazin „Journal of Applied Ecology" veröffentlicht.
Artenvielfalt allein lässt keine verlässlichen Aussagen zu
Klimaerwärmung, Abholzung und andere größtenteils von Menschenhand verursachte Umweltveränderungen drängen viele Arten an den Rand des Aussterbens. Die Folge: immer weniger Arten bewohnen ein Gebiet. Die internationale Convention on Biological Diversity oder die europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie haben es sich zum Ziel gemacht diese Biodiversitätskrise einzudämmen. Um den Zustand eines Ökosystems einzuschätzen, wurde meist die Anzahl der Arten verwendet. „Doch dieses Maß hat seine Tücken, denn es spiegelt Veränderungen im System nicht richtig wider“, sagt der Oldenburger Biodiversitätsexperte Hillebrand.
Tatsächlich führen laut den neuesten Berechnungen der Wissenschaftler negative Einflüsse auf ein Ökosystem nicht unmittelbar dazu, dass die Artenzahl abnimmt. Auch umgekehrt steigt die Zahl der Arten nicht sofort an, sobald sich ein Ökosystem von einem menschlichen Eingriff erholt. Der Grund: „Die Artenzahl ergibt sich aus einem Gleichgewicht zwischen Einwanderung und Aussterben von Arten“, erläutert Hillebrand. Beides laufe aber nicht gleich schnell ab: Wenige Individuen einer Art können schnell in ein lokales Habitat einwandern und es so besiedeln. Dagegen dauert es mehrere Generationen, bis eine Art von einer neuen, konkurrenzstärkeren Art verdrängt wird oder aufgrund der veränderten Bedingungen ausstirbt. „Ob also über einen langen Zeitraum mehr oder weniger Arten in einem Ökosystem verbleiben, kann man anhand von kurzfristigen Trends nicht verlässlich sagen“, betont Hillebrand, und ergänzt: „Die Artenzahl kann also ein falscher Freund sein.“
Wer bleibt, wer geht?
Die Empfehlung der Wissenschaftler: genauere Beobachtungen, wie viele Arten in ein System einwandern, wie viele auswandern und wie viele Arten häufiger beziehungsweise seltener werden. Mit dieser Methode analysierten die Wissenschaftler beispielhaft Langzeit-Messungen aus unterschiedlichen Ökosystemen: „Wir können zeigen, dass sich die Identitäten der Arten teilweise oder sogar komplett austauschen – selbst wenn sich über die Zeit die Artenzahl überhaupt nicht verändert“, sagt Hillebrand. „Das ist eine große Veränderung der Biodiversität, die sich in der reinen Artenzahl gar nicht abbildet.“
Überspitzt hieße das: Wenn in einem Wald die Baumarten durch ebenso viele Grasarten ersetzt würden, wäre die Artenzahl gleich geblieben, der Wald jedoch fort, erläutert der Ökologe. Für ihre Analysen nutzten die Forscher explizit Daten, die Naturschützer ohnehin als Teil von Umweltüberwachungsprogrammen erheben. So wollen die Wissenschaftler gewährleisten, dass ihr Werkzeug auch mit in der Praxis oft begrenzten Ressourcen einsetzbar ist. „Wir hoffen, so auch eine Brücke zwischen Grundlagenforschung und Naturschutzpraxis zu schlagen“, sagt Hillebrand.
jmr