Vorprozessierte Lebensmittel sollen gesünder werden, das haben sich praktisch alle Hersteller auf die Fahnen geschrieben. Zucker fördert Übergewicht, Salz Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wenn es darum geht, die Menge dieser Zutaten in einem Produkt zu verringern, senken die Produzenten allerdings in erster Linie die empfohlene Portionsgröße. Denn Tests mit alternativen, gesünderen Formulierungen haben eines gezeigt: Produkte, die weniger Zucker oder Salz enthalten, als die Verbraucher es gewohnt sind, entsprechen meist nicht den Geschmackserwartungen – und werden von Verbrauchern nicht akzeptiert.
Nicht jeder kann immer frisch kochen
„Es greift zu kurz zu sagen, die Menschen müssen sich mehr bemühen – frisch kochen und mehr Sport treiben. Das ist zwar ein sehr guter Weg, aber er ist für große Teile der Bevölkerung nicht gangbar“, erklärt Lars Ole Haustedt, Director Projects & Innovation von der AnalytiCon Discovery GmbH. Beispielsweise seien viele Menschen auf Kantinenessen angewiesen.
2013 haben sich 22 Forschungseinrichtungen und Unternehmen in der strategischen Allianz „Natural Life Excellence Network 2020“ (NatLifE 2020) zusammengeschlossen, unter anderem um kalorienarme Stoffe zu finden, die es ermöglichen, Zucker- und Salzanteile in der Nahrung zu verringern, ohne dass der Geschmack des fertigen Produktes beeinträchtigt wird. Das gibt es doch schon in Form von Süßstoffen und seit einiger Zeit auch Stevia? Grundsätzlich stimmt das – doch Süßstoffe und auch Stevia haben einen unerwünschten Beigeschmack, was ihre Einsatzmöglichkeiten begrenzt.
„Künstliche Süßstoffe sind deshalb immer ein Gemisch aus drei bis vier Süßstoffen“, weiß Haustedt. Mit der Menge eines einzelnen Süßstoffs, die noch nicht als unangenehm empfunden wird, ließe sich die beabsichtigte Süße nicht erzielen. Das gelte ähnlich für Stevia, berichtet Haustedt: „Stevia hat einen Lakritzbeigeschmack. Für Lakritz-Weingummi ist das kein Problem – in der Cola schon.“ In Cola-Produkten, die mit Stevia gesüßt sind, findet sich daher immer noch ein weit größerer Anteil anderer Süßstoffe oder Zucker.
Bittergeschmack von Süßstoffen maskieren
Bei AnalytiCon Discovery suchen die Forscher daher nach Substanzen, die den Nebengeschmack maskieren können. Ein natürlicher Aromastoff soll es sein, denn chemisch synthetisierte Verbindungen könnten zwar ebenfalls den Zweck erfüllen, müssen aber entsprechend auf den Lebensmitteln gekennzeichnet werden. „Verbraucher sind bei E-Nummern immer kritisch, und die Kategorie ,naturidentisch‘ gibt es nicht mehr“, erläutert Haustedt.
Unzählige essbare Teile von Pflanzen hat sich das Team um Haustedt vorgenommen und daraus rund 2000 unterschiedliche Substanzen in Reinform isoliert. Darunter finden sich Gewürze, die die Forscher in alten Kochbüchern entdeckt haben und Pflanzen, die nicht in Europa, wohl aber in anderen Teilen der Welt verzehrt werden. Aber auch in alltäglichen Nahrungsmitteln wie Kartoffeln und Bananen haben die Wissenschaftler noch Substanzen entdeckt, deren Existenz bislang unbekannt war. „Wir haben große Mengen davon extrahiert, um darin Verbindungen zu finden, die nur in geringen Mengen vorhanden sind“, erklärt Haustedt.
Paprika wurde auf geeignete Inhaltsstoffe untersucht.
Hohe Anforderungen an Produktkandidaten
Die eigentliche Herausforderung habe aber darin bestanden, von dieser Vielzahl an Treffern zu echten Produktkandidaten zu kommen, schildert der Chemiker. Anhand von Testsystemen aus menschlichen Geschmackszellen, die Projektpartner und seit 2013 das Mutterunternehmen BRAIN AG entwickelt hat, untersuchten die Forscher, welche der Substanzen die relevanten Geschmackszellen aktiviert. Für Stoffe, die reproduzierbar diese Wirkung erzielten, folgte eine Literaturrecherche: „Was ist über die Toxikologie bekannt? Was wissen wir über Substanzen mit ähnlichen Strukturen?“, schildert Haustedt.
War der gefundene Stoff gesundheitlich unbedenklich, nahmen Tester eine kleine Menge davon in wässriger Lösung in den Mund und spuckten ihn sofort wieder aus. Bestätigte sich hier der Geschmackseindruck aus den Testzellen, hatten die Wissenschaftler einen Produktkandidaten gefunden. Das Produkt allerdings sollte keine Reinsubstanz sein, sondern möglichst ein unkompliziert zu erzeugender Trockenextrakt, in etwa wie das Pulver einer Gemüsebrühe.
Wenn auch jetzt noch der Geschmackseindruck fortbesteht, beginnt die Entwicklung in Richtung eines Produktes: Lässt sich der Extrakt effizient herstellen? Ist der Prozess ökologisch nachhaltig? „Das Produkt muss gut wasserlöslich und stabil sein – vor allem thermisch und geschmackstabil“. betont Projektleiter Haustedt. Außerdem dürfen bei der Herstellung keine Nebenverbindungen entstehen.
Auf dem Weg zur Kommerzialisierung
Unter den übrig gebliebenen Substanzen sind tatsächlich welche, die erfolgreich den Bittergeschmack von Süßstoffen oder den Lakritzgeschmack von Stevia maskieren. Die Substanzen blockieren auf der Zunge die Bitterrezeptoren, sodass die üblichen Signalkaskade ans Gehirn unterbunden wird. Andere im Projekt entdeckte Stoffe verstärken die Signalkaskade der Geschmackszellen für süße Substanzen, wodurch mit weniger Zucker oder Süßstoffen ein ungeschwächter Geschmackseindruck entsteht.
Am weitesten fortgeschritten ist jedoch der Versuch, Kochsalz in Lebensmitteln zu ersetzen. Schon lange weiß man, dass Natriumchlorid prinzipiell durch Kaliumchlorid ausgetauscht werden kann, das weniger schädlich für das Herz-Kreislauf-System zu sein scheint. Auch toxikologisch dürfte es unbedenklich sein, da es in Kartoffeln in größeren Mengen vorkommt. „In Kartoffel liegt Kaliumchlorid allerdings in einer Matrix vor. Pur schmeckt es jedoch sehr unangenehm“, schildert Haustedt. Auch hier hat AnalytiCon Discovery eine Substanz gefunden, die diesen Geschmack reduziert. Joachim Schmitt von der FH Fulda hat damit als Modellprodukt Cracker entwickelt, in deren Rezeptur Kaliumchlorid statt Natriumchlorid genutzt wird.
Allianz "NatLife 2020" im Überblick
Industriepartner: Brain AG ( Koordination), Merck KGaA, L.A. Schmitt GmbH, AB Enzymes GmbH, Analyticon Discovery GmbH
Akademische Partner: Uni Münster, Uni Göttingen, Uni Potsdam, Uni Greifswald, Uni Würzburg, Hochschule Fulda und LMU München.
Im Rahmen der "Innovationsinitiative industrielle Biotechnologie" wird das insgesamt rund 30 Mio. Euro schwere Projekt „NatLifE 2020“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zur Hälfte kofinanziert. So erhielt AnalytiCon Discovery für die ersten beiden von drei Teilprojektabschnitten in Summe etwa 1,35 Mio. Euro. Der zweite Abschnitt endet im Februar 2019. Ein dritter Abschnitt mit weiteren drei Jahren ist geplant, um die Ergebnisse noch näher an die Marktreife zu bringen. Denn noch fehlen bis zu einem marktreifen Produkt wichtige Schritte, wie Haustedt erläutert: „Ab jetzt geht es um die Frage der Herstellung im Tonnenmaßstab und um die Anforderungen für eine Zulassung für Lebensmittel.“ Genug zu tun also für weitere drei Jahre.
Autor: Björn Lohmann