„Kompromisse sind der ethische Königsweg“

„Kompromisse sind der ethische Königsweg“

Stephan Schleissing

Beruf: 
promovierter Theologe

Position: 
Leiter des Programmbereichs „Ethik in Technik und Naturwissenschaften“, Institut TTN an der LMU München

Dr. Stephan Schleissing
Vorname
Stephan
Nachname
Schleissing

Beruf: 
promovierter Theologe

Position: 
Leiter des Programmbereichs „Ethik in Technik und Naturwissenschaften“, Institut TTN an der LMU München

Dr. Stephan Schleissing

Sozialethiker Stephan Schleissing macht sich dafür stark, dass auch ethische Aspekte wie Interessenskonflikte bei der Debatte um den Einsatz neuer gentechnischer Methoden in der Pflanzenzüchtung berücksichtigt werden.

Die neuen Verfahren des Genome Editing, zu denen auch die Genschere CRISPR-Cas gehört, revolutionieren seit langem die biologische Forschung und bergen großes Potenzial für Anwendungen in der Landwirtschaft und Pflanzenzüchtung. Doch ihr Einsatz ist umstritten. Vor allem bei der Regulierung gehen die Meinungen auseinander. Der Münchner Theologe und Sozialethiker Stephan Schleissing erläutert im Interview, warum auch ethische Überlegungen in den gesellschaftlichen Diskus einbezogen werden müssen.

Frage

Wo liegen die Chancen neuer gentechnischer Methoden in der Pflanzenzüchtung?

Antwort

Der Anpassungsbedarf der landwirtschaftlich genutzten Kulturpflanzen ist groß und muss schnell geschehen. Das liegt sowohl an Umweltfaktoren wie Trockenheit, Pilzen oder Schädlingen als auch an gestiegenen Anforderungen des Gesetzgebers für eine nachhaltige Landwirtschaft. Wissenschaftler, Pflanzenzüchter und Landwirte in Europa plädieren deshalb für eine rasche Zulassung der Neuen Genomischen Züchtungstechniken (NGT), um die traditionellen Züchtungsmethoden sinnvoll zu ergänzen. Die NGT helfen, bei den wichtigen Themen von Klimawandel, Ernährung und Biodiversität Verbesserungen zu erzielen.

Frage

Seit 2018 gilt, dass die neuen Züchtungstechniken ebenso zu regulieren sind wie die konventionellen Methoden der sogenannten grünen Gentechnik. Ist die Bewertung noch zeitgemäß?

Antwort

Der Begriff „grüne Gentechnik“ suggeriert Risiken in der Pflanzenzüchtung, die spezifisch für den Einsatz dieser Technik sind. Nach über 30 Jahren Biosicherheitsforschung wissen wir heute jedoch, dass nicht die Technik, wohl aber die Eigenart des dadurch hervorgebrachten Endprodukts potenziell gefährlich sein könnte. Zu Recht fordern Wissenschaftler daher im Fall der NGT, von einem prozessorientierten auf ein produktorientiertes Bewertungsverfahren umzuschalten. Wenn es richtig ist, dass die durch NGT hervorgerufenen Mutationen so auch durch natürliche Prozesse entstehen können, dann leuchtet nicht ein, warum diese genomischen Züchtungstechniken nicht auch wie andere konventionelle Züchtungstechniken reguliert werden sollten.

Frage

In der Diskussion um neue Züchtungstechniken verweisen Kritiker stets auf Risiken. Warum ist die Diskussion um den Einsatz neuer Züchtungstechniken wie das Genome Editing auch eine Frage der Ethik?
 

Antwort

In Risikofragen ist es für einen Sozialethiker geboten, sich an der Auskunft der mit den NGT befassten Wissenschaften zu orientieren. Anders als von Gentechnikkritikern dargestellt, gibt es in der wissenschaftlichen Gemeinschaft keinen grundsätzlichen Streit über die Sicherheit von gv-Pflanzen, die mithilfe der NGT hergestellt werden. Strittig ist allerdings die Frage, wie die unterschiedlichen Interessen zwischen konventionellen Pflanzenzüchtern und Landwirten auf der einen Seite und zum Beispiel Biolandwirten auf der anderen Seite zu behandeln sind. Dieser Interessenkonflikt gründet auch in einer unterschiedlichen Abwägung von Werten wie Mannigfaltigkeit der Natur oder Ernährungssicherheit, deren Eigenart mithilfe der Ethik verständlich gemacht werden kann.

Frage

Welche Aufgabe hat die Ethik hierbei? Welche Rolle spielt dabei der mit den Züchtungstechniken verbundene Fortschritt in der Pflanzenzüchtung?

Antwort

Die Frage, ob technische Innovation auch Fortschritt bedeutet, kann man zwar empirisch belegen. Angesichts bleibender offener Fragen ist sie aber zugleich eine ethische Aussage darüber, welche Zukunft der Einzelne für sich und seine Mitmenschen erwartet. Insofern gibt es „Fortschritt“ nur im Plural. Eine ethische Analyse kann klären, welche Funktion die Innovationssemantiken in der gesellschaftlichen Debatte über die NGT ausüben und über ihren Zusammenhang mit den Grundwerten der Europäischen Union aufklären.

Frage

Was muss aus Ihrer Sicht getan werden, um die Skepsis gegenüber neuen Züchtungstechniken abzubauen?

Antwort

„Kulturelles Unbehagen kann nicht verboten werden“, urteilte der evangelische Sozialethiker Peter Dabrock im Jahre 2017 auf einem Symposium der Leopoldina zur Bedeutung der NGT. In pluralistischen Demokratien sind unterschiedliche Überzeugungen legitim und zugleich Orientierungshilfe im politischen Meinungsstreit. Doch weil am Ende entschieden werden muss, wie mit den unterschiedlichen NGT fair und innovationsoffen umzugehen ist, sind Kompromisse der ethische Königsweg jeder politischen Gesetzgebungspraxis. Der Vorschlag der EU-Kommission zur neuen Regulierung der NGT aus dem Jahr 2023 verfolgt genau diesen Weg. Auch wenn dabei bei manchem ein Rest an „kulturellem Unbehagen“ erhalten bleibt, sprechen doch zugleich gute Gründe für eine differenzierte Regulierung der NGT. Dieser Kompromiss könnte einen Ausweg aus der jahrelangen, oft unbefriedigenden Debatte um die grüne Gentechnik weisen.

Interview: Beatrix Boldt