Gibt es nicht starke Unterschiede in den jährlichen Wachstumsraten der Bioökonomie in den diversen Regionen weltweit? Mein Eindruck aus eigenen Erfahrungen ist, dass Deutschland noch erhebliches Aufholpotential hat. Wo sehen Sie die Hauptgründe dafür und welche Maßnahmen wären nötig?
Dr. Jürgen Eck, CEO BRAIN AG: Während frühere Wirtschaftszyklen nahezu ausnahmslos durch Rohstoffe und entsprechend die Rohstoffinhaber determiniert wurden, so ist einer der wichtigsten Treiber einer modernen und wissensbasierten Bioökonomie die Technologie und die zur Etablierung neuer Produktionsprozesse und neuer Produkte notwendige Forschung & Entwicklung. Europa und Deutschland sind hinsichtlich F&E für die Bioökonomie gut aufgestellt, hier kommt uns der Ideenreichtum gerade der Verbünde aus universitärer, ausseruniversitärer und industrieller F&E zu gute. Ein Indikator dafür ist das Wachstum der Biotechnologiebranche – die zentrale Innovationskraft der Bioökonomie.
Gegenüber Nordamerika und Asien muss sich Europa jedoch anstrengen, den Anschluss nicht zu verlieren, denn gerade die Skalierung neuer Produktionsprozesse und die Implementierung neuer Produkte ist kapitalintensiv. So ist ein bedeutender Innovationsvorteil für Nordamerika und Teile Asiens bessere Rahmenbedingungen für Wachstumsfinanzierungen. In Nordamerika zum Beispiel ist die Bereitschaft, Risikokapital in die Biotechnologie zu investieren, wesentlich höher. Dabei geht es nicht nur um Seed-Kapital für StartUps. Es geht vor allem auch um umfangreichere Anschlussfinanzierungen, um im Labor etablierte Prozesse in industrie- und damit marktrelevante Größenordnungen überführen zu können.
Allein in der US-Region Boston, wo herausragende Institutionen wie das MIT angesiedelt sind, werden jedes Jahr mehr als 5 Milliarden Euro Wagniskapital in die Biotechnologiebranche investiert – in Deutschland kamen wir 2016 auf etwa 210 Millionen Euro. Hier gibt es erhebliches Aufholpotenzial. Unser Ziel muss sein, weiterhin eine führende Position in der F&E einzunehmen, aber zugleich auch eine Implementierung der neuen Verfahren und Produkte im Wirtschaftssystem in Deutschland und Europa zu erreichen.
Was ist mit Suffizenz? Muss ein gesellschaftlicher Wandel nicht auch dazu führen, dass Verzicht cool wird und weniger Verbrauch ein Ziel sein kann?
Tobias Kümmerle, Humboldt-Universität Berlin: Viele der großen Nachhaltigkeitsfragen unserer Zeit können nur mit Hilfe tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen dauerhaft gelöst werden. Dies schließt selbstverständlich auch das Hinterfragen und die Änderung von Konsumverhalten mit ein. Wenn wir Ressourcen nicht effizienter nutzen und vor allem pro Kopf weniger Ressourcen verbrauchen, wird es nicht möglich werden das globalen Artensterbens zu stoppen, den Klimawandel substantiell zu mindern oder Nahrung für eine weiterhin wachsende Weltbevölkerung zu sichern. Dieser gesellschaftliche Wandel sollte auf allen Ebenen vorangetrieben werden – jeder kann heute anfangen! Sicherlich ist jedoch vor allem auch die Politik gefragt entsprechende Anreize zum Verzicht, beispielsweise beim Fleischkonsum, oder zur Langlebigkeit von Produkten zu schaffen.
Ein gesellschaftlicher Wandel für eine nachhaltige Bioökonomie erfordert die Beteiligung aller gesellschaftlicher Gruppen. Was genau soll/kann der Beitrag der öffentlich geförderten Forschung sein?
Tobias Kümmerle: Die öffentlich geförderte Forschung stellt ein wichtiges Instrument dar um Wissenslücke zu schließen, welche nicht in direktem Zusammenhang mit wirtschaftlich direkt verwertbaren Produkten und Innovationen stehen. Dies betrifft vor allem auch die vielfältigen und oftmals komplexen Effekte bioökonomischen Handles, die Erfassung oftmals externalisierter Umweltauswirkungen oder der Analyse systemischer Zusammenhänge, welche aus der Sicht einzelner Sektoren nur schwer zu analysieren sind.
Überfrachten wir die Bioökonomie? Braucht es nicht umfassendere Aktivitäten, die zwar zu ihr beitragen, aber eigentlich extern liegen? (z.B. bewusst machen der Konsequenz unseres Konsums; Internalisierung von Kosten allgemein; neue Formen der Entwicklungszusammenarbeit; Capacity Building; Bildung)
Tobias Kümmerle: Auch wenn es manchmal kompliziert wird: die Bioökonomie sollte sich nicht auf die Erforschung neuer Technologien zurückziehen. Die vielfältigen Aus- und Wechselwirkungen bioökonomischer Verfahren auf Umwelt und Gesellschaft sollten immer im Zentrum der bioökonomischen Forschung und Anwendung stehen. Nur so lassen sich systemische Zusammenhänge aufdecken, Überraschungen vermeiden und Potentiale zur Lösung von Nachhaltigkeitsfragen optimal nutzen.
Als Basis von Informationsveranstaltungen gibt es meiner Meinung nach Wissenslücken über systemische Zusammenhänge. Wir sollten Fehler, die bei der Bioenergie gemacht wurden vermeiden.
Tobias Kümmerle: Systemische Zusammenhänge sind in der Tat noch nicht ausreichend erforscht. Dies betrifft beispielsweise die Frage wie sich Zielkonflikte über Skalen verhalten, welche Wechselwirkungen zwischen Biodiversität und Landnutzung bestehen oder wie sich indirekter Landnutzungswandel vermeiden lässt. Gleichzeitig wird bestehendes Wissen über systemische Zusammenhänge, zum Beispiel wie Fleischkonsum oder Agrarsubventionen in Deutschland sich auf Umwelt und Gesellschaft in Südamerika auswirken, zu selten kommuniziert (und beherzigt).