Rinderzucht: Genmutation führt zu Kälbersterben
Nutztiergenetiker haben bei Fleckvieh-Rindern eine Genmutation dingfest gemacht, die bei Kälbern zu Atemwegsproblemen und zum frühen Tod führen kann. Genomanalysen bei Kühen könnten der Erkrankung vorbeugen.
Eine Genveränderung auf Chromosom 19 ist bei Rindern verantwortlich für häufige Atemwegserkrankungen und den frühen Tod von Kälbern. Ein Expertenteam von der Technischen Universität München (TUM) hat mittels einer umfassenden Genomanalyse herausgefunden: Die ursächliche Genmutation ist bereits vor vielen Generationen entstanden und ist bei Braunvieh und Fleckvieh weit verbreitet. Würde man die Mutterkühe vorab als Träger der Mutation identifizieren, ließe sich der Erkrankung durch entsprechende Besamung vermeiden. Die Forscher berichten im Fachjournal BMC Genomics (2016, Online-Veröffentlichung).
Atemwegserkrankungen zählen zu den häufigsten Krankheiten von Kälbern. Dem Team um Hubert Pausch vom Lehrstuhl für Tierzucht von der Technischen Universität München ist es gelungen sowohl beim Braunvieh als auch beim Fleckvieh eine verantwortliche Mutation im Gen TUBD1 aufzuspüren: In reinerbigem Zustand, –wenn also beide Genkopien betroffen sind – verändert sich der Aufbau der Flimmerhärchen der Atemwege. Damit es dazu kommt, müssen beide Elternteile Träger der Genmutation gewesen sein. Der veränderte Aufbau beeinträchtigt die Bewegung der Flimmerhärchen und so können sie die Atemwege nicht mehr genügend von Sekret befreien. Die mangelnde Reinigung führt zu chronischen Infektionen. Defekte Flimmerhärchen verursachen auch beim Menschen eine Erkrankung der Atemwege, die allerdings sehr selten auftritt.
Fleckvieh und Braunvieh
An der Studie beteiligten sich neben dem TUM-Lehrstuhl für Tierzucht auch Wissenschaftler der Zentralen Arbeitsgemeinschaft österreichischer Rinderzüchter, des Kompetenzzentrums für Informatik & Genetik für Schweizer Zuchtorganisationen und der Rinderkliniken der Wiener und Züricher Universitäten. Gesunde Kälber sind für eine erfolgreiche und nachhaltige Rinderzucht entscheidend. Die dominierenden Rinderrassen in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz sind Fleckvieh und Braunvieh. Fleckvieh liefert Milch und Fleisch in hoher Quantität und Qualität, Braunvieh liefert vor allem Milch. In beiden Rassen werden züchterisch interessante Tiere über das komplette Genom hinweg genotypisiert, das bedeutet der genetische Fingerabdruck wird genommen, um ihre Erbanlagen zu erfassen. Auf diese Weise offenbaren sich individuelle Veränderungen, die zeigen, welche Anlagen ein Tier vererbt – sowohl positive als auch negative wie etwa genetisch-bedingte Krankheiten.
Umfangreichste Genom-Analyse beim Rind
Die Veränderung auf Chromosom 19 wurde beim Braunvieh bereits vor einigen Jahren entdeckt. Jetzt wurde sie auch beim Fleckvieh aufgespürt. „Es ist nun erstmals der Nachweis gelungen, dass die Genmutation wahrscheinlich bereits vor der Aufspaltung in die Rassen Braun- und Fleckvieh entstanden ist“, sagt Pausch. Das von ihm koordinierte Team untersuchte die Genom-Sequenzen von 290 ausgewählten Tieren und damit mehrere tausend Gigabyte Daten.
Beim Durchforsten der Genom-Datenbanken der Rinderzuchtverbände fiel dem Team von Pausch auf, dass die Mutation nahezu nie reinerbig zu finden war. „Wenn sowohl der Vater als auch die Mutter Träger der schadhaften Genvariante waren, war die Überlebenswahrscheinlichkeit der Nachkommen deutlich geringer. Reinerbige Nachkommen sind kurz nach der Geburt verendet und wurden somit auch nicht in die Genom-Datenbank aufgenommen.“
Schwierige Suche nach erkrankten Kälbern
Um dennoch die Ursache für die hohe Kälbersterblichkeit aufzuklären, mussten die Wissenschaftler aber gerade die in den Datenbanken fehlenden reinerbigen Kälber untersuchen. Dafür galt es, die reinerbigen Tiere rechtzeitig, also unmittelbar nach der Geburt aufzuspüren und klinisch zu charakterisieren. „Diese zu finden, war nicht einfach“, erinnert sich Pausch. Zwölf reinerbige Kälber konnten die Wissenschaftler letztlich ausfindig machen: Fünf wurden tot geboren, drei starben innerhalb von 30 Tagen und vier konnten an die Rinderkliniken nach Wien und Zürich gebracht werden. Diese vier Kälber waren deutlich untergewichtig und litten an wiederkehrenden Atemwegserkrankungen. Aufgrund der kontinuierlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes mussten die Tiere nach wenigen Wochen eingeschläfert werden. Die pathologischen Untersuchungen zeigten Veränderungen am Aufbau der Flimmerhärchen in den Atemwegen.
Zuchtverbände haben bereits reagiert
Seit die Ergebnisse der Studie bekannt sind, schließen die Zuchtverbände Träger-Tiere dieser Mutation von der Zucht aus. Hubert Pausch hält diese Entscheidung für „sehr radikal“ und mittelfristig nicht praktikabel. Er gibt zu bedenken: „Jedes Individuum trägt schadhafte Gene in sich.“ Für Pausch ist die Strategie der Zuchtverbände aber auch nachvollziehbar: „Ein Zuchtstier mit sehr guten Erbanlagen hat zwischen 10.000 und 100.000 Nachkommen und rezessive Varianten wie etwa die Mutation auf Chromosom 19 können sich so rasch in der Population anreichern.“
Kühe genotypisieren als Alternative
Pausch hält es für wesentlich ratsamer, eine Verpaarung mit Kühen zu vermeiden, die ebenfalls die Genmutation in sich tragen. Denn ein nicht reinerbiges (heterozygotes) Kalb, das nur eine Variante des schadhaften Gens in sich trägt, erkrankt nicht. Momentan werden weibliche Tiere allerdings nicht genotypisiert. Der Genetiker erwartet hier aber eine baldige Änderung der bisherigen Erfassung. Sobald auch weibliche Tiere flächendeckend genotypisiert sind, kann über genombasierte Anpaarungsstrategien verhindert werden, dass Anlageträger verpaart werden. So ließen sich züchterisch interessante Mutationsträger weiterhin einsetzen, ohne dass reinerbige Nachkommen mit wiederkehrenden Atemwegserkrankungen geboren werden.