Rheinisches Revier als Bioökonomie-Region: Am Puls des Strukturwandels

Rheinisches Revier als Bioökonomie-Region: Am Puls des Strukturwandels

Im Verbundprojekt „Bioökonomie – Verstehen. Verbinden. Unterstützen“ untersucht ein Team unter Leitung der RWTH Aachen, unter welchen Bedingungen der Strukturwandel im Rheinischen Revier hin zu einer Modellregion Bioökonomie gelingen kann.

Photovoltaikanlagen im Vordergrund, rechts die Äste eines Baumes. Im Hintergrund ein gelbes Rapsfeld und eine Industrie mit qualmenden Schornsteinen.
Hinten Braunkohle, vorne Photovoltaik: Die Agri-PV-Forschungsanlage in Morschenich-Alt im Rheinischen Revier

Der Strukturwandel im Rheinischen Revier ist in vollem Gange. Wo derzeit noch Braunkohle abgebaut wird, entsteht eine Modellregion für nachhaltiges und biobasiertes Wirtschaften. In einem anderen Themendossier auf bioökonomie.de werden die großen Forschungskonsortien der Modellregion Bioökonomie im Rheinischen Revier ausführlich vorgestellt (vgl. auch Infoboxen).

Der Wandel hin zu einer Bioökonomieregion lässt sich jedoch nicht nur durch Forschung erreichen. Die Transformation ist ein vielschichtiger und langfristiger Prozess, für dessen Gelingen zukunftsfähige und wirtschaftlich tragfähige Konzepte sowie das Zusammenspiel aller Akteure aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft von zentraler Bedeutung sind.

Hier setzt das Verbundprojekt Bioökonomie – Verstehen. Verbinden. Unterstützen (Bioökonomie-VVU) an. In dem Begleitforschungsprojekt wollen Forschende die Bedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung des Strukturwandels im Rheinischen Revier untersuchen.

Das Projekt umfasst zum einen die Begleitforschung durch ein Konsortium wissenschaftlicher Institute der RWTH Aachen und der TU Dortmund, zum anderen eine Geschäftsstelle, die gemeinsam vom Institut für Technologie- und Innovationsmanagement (TIM) der RWTH Aachen und dem Institut für Pflanzenwissenschaften (IBG-2) des Forschungszentrums Jülich betrieben wird. Das auf fünf Jahre angelegte Vorhaben wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bis 2026 mit insgesamt 6,3 Mio. Euro gefördert.

Professionelle Begleitung der Flaggschiff-Projekte

Im Fokus des Projektes steht dabei die professionelle Begleitung der beiden Flaggschiff-Projekte der Modellregion Bioökonomie im Rheinischen Revier: das Kompetenzzentrum Bio4MatPro und das Innovationscluster BioökonomieREVIER. „Wir verstehen uns als eine Art Metaprojekt und schauen uns an, was braucht es eigentlich auf dem Weg hin zu dieser Modellregion Bioökonomie“, sagt Christina Dienhart vom Institut für Technologie- und Innovationsmanagement (TIM) der RWTH Aachen. „Hier arbeiten wir mit allen Akteuren in der Region zusammen, vor allem aber mit den großen Flaggschiffen Bio4MatPro und BioökonomieREVIER. Diese Projekte wollen wir beim Strukturwandel unterstützen, um eine Bioregion im Rheinischen Revier zu gestalten.“ Dienhart zufolge geht es nicht darum, den Flaggschiffen „auf die Finger zu schauen“, sondern Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Modellregion zu systematisieren und nutzbar zu machen. 

Bio4MatPro

Im Kompetenzzentrum Bio4MatPro arbeiten derzeit 50 Partner aus Industrie und Wissenschaft in 23 F&E-Projekten zusammen, um die biologische Transformation von Industrien wie der Textil-, Chemie-, Medizintechnik- und Konsumgüterindustrie sowie im Bereich Leichtbau durch eine biologische Transformation der Materialwissenschaften und Produktionstechnik zu erforschen und voranzutreiben. Acht der insgesamt 23 F&E-Projekte sind Industrie-geführt.

Mehr Informationen gibt es auf der Projektwebseite.

BioökonomieREVIER

Das Innovationscluster BioökonomieREVIER entwickelt erfolgversprechende Forschungsansätze, die auf unterschiedliche Weise zur Transformation der Region von einem fossilen hin zu biobasiertem Wirtschaften in Industrie und Landwirtschaft beitragen. Geforscht wird in insgesamt 14 Innovationslaboren in drei Themenfeldern, die auf den wirtschaftlichen Stärken der Region basieren: Landwirtschaft, Biotechnologie und Kunststoffwirtschaft sowie ingegrierte Bioraffinerie.

Mehr Informationen gibt es auf der Projektwebseite

Ein wesentliches Anliegen aller Projektpartner ist es, die Bioökonomie im Rheinischen Revier in die Region zu tragen. „Wir wollen die Erkenntnisse und Erfahrungen der Modellregion, insbesondere der Flagships, thematisieren und in der Praxis nutzbar machen und verstehen, wie der Strukturwandel hin zu einer Modellregion Bioökonomie funktioniert. Am Ende soll ein Innovationsökosystem entstehen, das Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in der Modellregion zusammenbringt“, erklärt Dienhart.

Geschäftsstelle unterstützt Wissenstransfer

Darüber hinaus wurde im Rahmen des Projektes eine Geschäftsstelle etabliert, um den Erkenntnistransfer der Begleitforschung in die bioökonomische Praxis zu unterstützen – etwa durch Veranstaltungen, Veröffentlichungen, Workshops, Delegationsreisen sowie Messe- und Unternehmensbesuche. Dabei wird das Hauptaugenmerk des Transfers vor allem auf bestehende und neue Akteure, die Gesellschaft der Region, aber auch überregionale Vernetzungen gelegt.

„Die Geschäftsstelle dient dazu, die Forschungsaktivitäten in den Flagships und der Begleitforschung mit den Akteuren und ihren Herausforderungen in der Region zu verknüpfen und Fortschritte und Chancen der einzelnen Technologieinnovationen für Industrie und Landwirtschaft, aber eben auch der Bioökonomie für die gesellschaftliche Transformation zielgruppenspezifisch zu vermitteln“, erklärt Christian Klar vom IGB am FZ Jülich und Projektverantwortlicher der Geschäftsstelle.

Klar zufolge bietet das Rheinischen Revier große Potenziale für die Bioökonomie, weil es auf ein „intensiv entwickeltes Akteursnetzwerk“ zurückgreifen kann. „Die Unternehmenslandschaft im Rheinischen Revier aus Food, Chemie, Papier, Textil, Biotech gepaart mit der Landwirtschaft und der Wissenschaft bietet eine hervorragende Ausgangssituation. Ziel unserer Arbeit ist es, noch besser, insbesondere den Mittelstand, mit dem Innovationspotenzial in der regionalen Wissenschaft zu vernetzen“, sagt Klar. Durch Vernetzung und Transfer soll sichergestellt werden, dass das Rheinische Revier von den Forschungsergebnissen auch profitiert, in dem „Lösungsansätze für reale Problemlagen und Herausforderungen der Strukturwandelregion entwickelt werden“.

Das TIM-Team um Christina Dienhart widmet sich im Projekt genau jenen ökonomischen Aspekten, die für das praktische Gelingen der Bioökonomie im Strukturwandel gebraucht werden. Dazu zählen beispielsweise die Entwicklung von Geschäftsmodellen, die Analyse von bioökonomischen Technologien und die Untersuchung regionaler Netzwerke. Mit Interviews und Umfragen sowie Veranstaltungen ergründet das TIM-Team zudem, welche Akteure in der Region „im weitesten Sinne“ auf dem Gebiet der Bioökonomie aktiv und ob und wie sie untereinander vernetzt sind. Für den wissenschaftlichen Teil der Begleitforschung sind neben dem TIM vier weitere Institute der RWTH Aachen und der TU Dortmund verantwortlich.

Statustreffen der Projektgruppe BÖ-VVU
Jahresabschlusstreffen des Konsortiums 2023 mit Projektpartner der RWTH Aachen: (linke Seite, vorn im Bild: Christina Dienhart 2.v.l.; Steffen Strese 4 v.l.)

Gründung und Ansiedlung von Start-ups im Visier

Die Forschenden der TU Dortmund nehmen hier gezielt die Gründungs- und Ansiedlungsaktivitäten von Unternehmen und Start-ups der Bioökonomie ins Visier - sowohl im Rheinischen Revier als auch außerhalb der Region. „Unser Ziel ist es zu verstehen, was Unternehmen und Start-ups dazu bewegt, sich im Rheinischen Revier zu gründen und anzusiedeln, um die Modellregion zu einem attraktiven und innovativen Standort für Bioökonomie zu machen“, sagt Steffen Strese, der das Projekt an der TU Dortmund leitet. „Die aktuellen Gründungszahlen zeigen eine kontinuierliche positive Entwicklung der Bioökonomie-Start-ups im Rheinischen Revier, wobei sich die meisten noch in einer sehr frühen Unternehmensphase befinden. Außerdem hat sich gezeigt, dass ein großer Teil der Start-ups universitäre Ausgründungen oder auch Ausgründungen aus bestehenden Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind“, berichtet Strese.

Doch was hat sich seit dem Projektbeginn im Jahr 2022 getan? Mit der Statuskonferenz wurde eine jährliche Plattform etabliert, in deren Rahmen sich alle Akteure aus dem Rheinischen Revier über ausgewählte Themen wie Flächennutzung, Akteursgewinnung oder Start-up-Kultur austauschen. Gleichzeitig bietet die Veranstaltung der Begleitforschung die Möglichkeit, ihre Forschungsergebnisse öffentlich zu machen.

Statuskonferenz bringt Akteure zusammen

„Mit der Statuskonferenz bringen wir unterschiedlichste Akteure zusammen. Es ist eine öffentliche Veranstaltung, zu der die beiden Flagships ihre Kontakte, aber auch Vertreter aus Unternehmen, Start-ups und der Politik einladen. Wir nutzen die Statuskonferenz, um unsere Themen vorzustellen, und bieten somit einen Gedankenanstoß für Diskussionen“, erklärt Dienhart.

Im Zuge der Statuskonferenz wird zudem der jährliche Innovationsbericht der Begleitforschung veröffentlicht. Er gibt einen Einblick in die aktuelle Entwicklung der Modellregion Bioökonomie im Rheinischen Revier und enthält kurze inhaltliche Beiträge aus der Begleitforschung. „Außerdem haben wir eine White-Paper-Reihe mit dem Titel ‚Blickpunkt Bioökonomie‘ ins Leben gerufen, in der wir unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse in einen Praxisbericht umsetzen.“

Statuskonferenz Bioökonomie VVU 2024
David Antons von der Universität Bonn erläutert auf der Statuskonferenz von Bioökonomie VVU 2024 die Akteurslandschaft.

Darüber hinaus hat das TIM-Team Handlungsempfehlungen für die praktische Bioökonomie in der Region erarbeitet: „Wir haben verschiedene Strategieentwicklungsmuster identifiziert, die zeigen, wie regionale Innovationsprojekte eine gemeinsame Strategie entwickeln und umsetzen“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wenn man weiß, in welches Muster ein Projekt oder Konsortium passt, weiß man auch, wie man am besten unterstützen kann, da wir die Herausforderungen und Erfolgsfaktoren kennen.“

Als Beispiel nennt Dienhart Projekte, in denen Ideen sehr basisdemokratisch entwickelt werden. „Diese Projekte haben den Vorteil, dass sie von allen Akteuren gemeinsam getragen und entwickelt werden. Sie haben gleichzeitig aber auch den Nachteil, dass es teils länger dauern kann, bis erste Ergebnisse erzielt werden. Wir können politischen Entscheidern mit unseren Analysen Handlungsempfehlungen an die Hand geben, wie man derartige Projekte bestmöglich unterstützen kann und ihre Potenziale heben sowie die Schwächen frühestmöglich erkennen kann“, erklärt Dienhart.  

Das Thema Modellregion Bioökonomie wurde laut Dienhart auch in den Lehrplan der RWTH Aachen aufgenommen. Hier werden Studierende in konkrete Projekte eingebunden und so für das Thema sensibilisiert. Promovierende durch eine interdisziplinäre Ausbildung zu Gründungen zu inspirieren und damit die Transformation im Rheinischen Revier aktiv mitzugestalten – darauf zielt auch das Graduiertencluster AUFBRUCH, das vom BMBF gefördert wird, und an dem die drei Partner vom Begleitforschungsprojekt ebenfalls beteiligt sind. 

Graduiertencluster AUFBRUCH

AUFBRUCH wird im Rahmen des Strukturwandels Rheinisches Revier vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 12,5 Mio. Euro gefördert. Das Graduiertencluster vereint acht Partner im und um das Rheinische Revier: Es bringt Partner aus Universitäten, drei Fachhochschulen, eine Forschungseinrichtung und ein Innovationsnetzwerk zusammen und bündelt so Kompetenzen aus Biotechnologie, Chemie, Verfahrenstechnik, Logistik, Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften und Raumplanung, um die Transformation des Rheinischen Reviers in eine nachhaltige regionale Bioökonomie entscheidend voranzubringen.

Mehr Informationen gibt es auf der Projektwebseite

Start-ups profitieren von starker regionaler Vernetzung

Darüber hinaus wurde etwa im Laufe des Projektes eine Kompetenzlandkarte erstellt, die zeigt, welche Unternehmen in welchen Bereichen im Rheinischen Revier tätig sind. Die TU Dortmund veröffentlicht zudem jährlich den sogenannten Bioökonomie-Start-up-Puls. „Der Report zielt darauf ab, die Besonderheiten von Bioökonomie-Start-ups und deren Bedeutung für den Strukturwandel aufzuzeigen sowie die Herausforderungen und Chancen dieser Start-ups herauszuarbeiten“, erklärt Steffen Strese. Eine der größten Herausforderungen für Bioökonomie-Start-ups sei die Finanzierung, so Strese. „Allerdings profitieren Start-ups im Rheinischen Revier bei der Akquise von Finanzkapital auch von der starken Vernetzung in der Region.“

Technologietransfer in die Wirtschaft stärken

Im Rahmen einer sogenannten Delphi-Studie untersuchen Forschende der RWTH Aachen derzeit noch, wie die Zukunft im Rheinischen Revier mit Blick auf eine biobasierte Wirtschaft aussehen könnte. Erste Ergebnisse liegen bereits vor: Zwar bietet das Rheinische Revier gute Ausgangsbedingungen für die bioökonomische Transformation, insbesondere mit den beiden Flagschiffen und dem WIR! Bündnis Ingrain. „Es muss allerdings der Technologietransfer in Anwendungen in die regionale Wirtschaft deutlich gestärkt werden“, sagt Dienhart. „Dazu braucht es stärker anwendungsorientierte Forschungsprojekte, eine enge Kooperation mit Klein- und Mittelbetrieben, bessere Förderungen, aber auch regulatorische Anpassungen.“ Auch die Unterstützung von Start-ups in der Region sollte verbessert werden. Das betrifft laut Dienhart nicht nur die Finanzierung, sondern auch die Schaffung von Laborflächen.

Projektgruppe bei Besichtigung im Tagebau
Delegationsreise zur Vernetzung von Bioökonomie-Initiativen des Rheinischen mit dem Lausitzer Revier

„Bioökonomie – Verstehen. Verbinden. Unterstützen“

Weitere Informationen zum Begleitforschungsprojekt gibt es auf der Webseite des Forschungsverbundes „Bioökonomie-VVU“.

Zivilgesellschaft mitnehmen

Erste Erkenntnisse aus dem Verbundprojekt Bioökonomie-VVU zeigen: „Der Strukturwandel kann nur gelingen, wenn er aus der Region für die Region gemacht wird, alle Akteure mitnimmt und auch die Zivilgesellschaft einbezieht“, resümiert Dienhart. Derzeit werde der Kohleausstieg extrem negativ kommuniziert, weil man nicht wisse, wie das gelingen könne. „Indem wir ein besseres Bild zeigen, müssen wir eine Art Aufbruchstimmung erzeugen,“ sagt Dienhart.

Autorin: Beatrix Boldt