Zukunftsreport: Hilferuf der Bioinformatiker und Systembiologen
Erstmals haben Experten der Leopoldina einen Zukunftsreport zu den Lebenswissenschaften verfasst. Ihr Fazit: Deutschland droht zurückzufallen, wenn nicht langfristig und nachhaltig in Infrastrukturen investiert wird.
Für ihren ersten Zukunftsreport haben sich die Experten der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, die Lebenswissenschaften und ihre aktuellen Herausforderungen vorgenommen. Auf 40 Seiten werfen sie insbesondere einen Blick auf Omics-Technologien und Bioinformatik. Ihr Fazit ist ernüchternd: Dank langjähriger Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sei zwar vielerorts Kompetenz geschaffen worden, doch es mangelt an Nachhaltigkeit, um Themen wie Big Data adäquat zu begegnen. „Wir drohen den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren“, so die Autoren.
„Die Bundesregierung hat seit Mitte der 90er Jahre rund 1,5 Milliarden Euro in Genomforschung und Systembiologie investiert. Wenn das nicht verpuffen soll, müssen wir handeln“, sagte Regine Kahmann, Direktorin am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie in Marburg und eine der sechs Hauptautoren des Reports bei der öffentlichen Vorstellung der Publikation am 9. September in Berlin. Auf Basis von Fachgesprächen und Experteninterviews wurde hier der aktuelle Stand der Omics-Technologien und ihrer Förderung in Deutschland zusammengefasst. Demnach wird insbesondere die Bedeutung der Bioinformatik innerhalb der lebenswissenschaftlichen Forschung in den kommenden Jahren um bis zu 30% steigen.
Zukunftskonzepte für Big Data gefragt
Ob Medizin, Chemie oder Landwirtschaft – überall spielen Omics-Technologien eine zentrale Rolle, doch Deutschlands Forschungsinfrastruktur sei beim Thema Big Data nicht ausreichend auf künftige Herausforderungen eingestellt. Roland Eils vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg erläuterte dies am Beispiel Krebs: „Die Genomsequenz eines Tumors braucht in etwa soviel Speicherkapazität wie einhundert iPhones. Schon Forschungseinrichtungen haben Mühe, diese Mengen zu analysieren oder mehreren Forschern an verschiedenen Standorten zugänglich zu machen.“ Wenn eine Sequenzierung für alle Krebspatienten standardmäßig eingeführt würde, dann hätte man hierzulande ein Problem. „Wir wüssten gar nicht, wie wir mit diesen Datenmengen umgehen sollen, geschweige denn wie und wo wir sie speichern sollen“, mahnt der Krebsforscher und Bioinformatik-Experte. Es gelte also, Zukunftskonzepte für diese schon jetzt absehbaren Entwicklungen auszuarbeiten. Dies jedoch sei nur im Rahmen einer bundesweiten Initiative und idealerweise unter dem Dach einer zentralen Nationalen Infrakstruktur zu bewältigen.
Langfristige Finanzierungsmodelle gefordert
Am Ende des 40seitigen Reports kommen die Experten zu einem ernüchternden Fazit: Die bisherige Förderung – vor allem die vielen Initiativen des BMBF – haben eine Reihe von Zentren und Kompetenzen in Genomforschung, Proteomics, Bioinformatik und Systembiologie in Deutschland hervorgebracht, doch ohne langfristige Finanzierungsmodelle, die über 5 bis 10-Jahres-Räume hinaus gehen, seien die meisten Standorte nicht zu halten und eine Forschung auf Weltniveau langfristig nicht denkbar. Vor allem die Universitäten drohen zum Verlierer zu werden. „Die Haushalte der Bundesländer geben die nötigen Investitionen für den weiteren laufenden Betrieb nicht her und aktuelle Förderinitiativen greifen zu kurz “, betonte Michael Hecker, Direktor des Instituts für Mikrobiologie an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald. So soll zwar ein vom BMBF mit 22 Millionen Euro ausgestattetes und von der Universität Bielefeld koordiniertes Deutsches Netzwerk für Bioinformatik-Infrastruktur Anfang 2015 seine Arbeit aufnehmen, doch für die aktuellen Probleme, die die gesamten Lebenswissenschaften inklusive der Omic-Technologien betreffen, sei dieser Zusammenschluss zu eng gefasst.
Experten plädieren für Nationale Omics- und IT-Infrastruktur
Im Zukunftsreport wird der Aufbau einer Nationalen Omics- und IT-Infrastruktur gefordert, durch die universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Ausbildung zusammenarbeiten können. Hierfür veranschlagen sie ein langfristiges Budget in mindestens dreistelliger Millionenhöhe, das idealerweise über die Deutsche Forschungsgemeinschaft bereitgestellt und durch ein zu berufendes Gremium gesteuert wird. „Bei physikalischen Großgeräten oder den Forschungsschiffen funktioniert das auch“, betonte Kahmann. Aus Sicht der Leopoldina-Experten müssten die Lebenswissenschaften ebenfalls einen solchen Status erhalten. Angesichts einer absehbaren Änderung des Grundgesetzes, das eine leichtere Zusammenarbeit zwischen länderfinanzierten Universitäten und bundesfinanzierten außeruniversitären Einrichtungen vorsieht, sei zudem die strukturelle Basis geschaffen, um die nötige Infrastruktur auf die Beine zu stellen. „Schon heute gibt es mit dem Norddeutschen Zentrum für Mikrobielle Genomforschung in Göttingen ein gutes Beispiel für eine solche Zusammenarbeit“, so der Greifwalder Professor Hecker. „Deutschland bräuchte aber mindestens acht bis zehn Zentren dieser Art.“