Indigene Bautechnik als Vorbild

Indigene Bautechnik als Vorbild

Forscher haben die Struktur der lebenden Brücken in Indien untersucht und sind überzeugt: Die spezielle Bautechnik der Wurzelbrücken sollte in die moderne Architektur einfließen.

Über 50 Meter lange lebende Brücke bei Rangthylliang, Meghalaya (Indien)
Die sogenannten Meghalaya-Brücken führen teilweise über tiefe Schluchten. Viele werden durch Geländer und Handläufe aus den Luftwurzeln abgesichert

Sie gleichen einem wirren Geflecht aus Ästen und scheinen nicht besonders stabil zu sein: die lebenden Brücken in Indien. Doch die hängenden Gebilde aus Luftwurzeln des Gummibaumes Ficus elastica haben so manchen Monsun in den vergangenen Jahrhunderten überstanden, wo selbst Konstruktionen aus Stahlbeton versagten. Ferdinand Ludwig von der Technischen Universität München ist daher überzeugt, dass die moderne Architektur, vor allem mit Blick auf klimafreundliche Städte, von dieser alten Bautechnik lernen kann. „Solche stabilen Brücken aus ineinander verschlungenen Wurzeln können mehr als 50 Meter lang und mehrere Hundert Jahre alt werden“, berichtet Ludwig.

Gemeinsam mit Botaniker Thomas Speck von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg analysierte Ludwig 74 solcher lebenden Brücken in Indien. Um den Bauprozess besser zu verstehen, sprachen sie mit Brückenbauern vor Ort, machten Fotos von den Konstruktionen und erstellten daraus 3D-Modelle, um einen Überblick über die komplexe Wurzelstruktur zu gewinnen. Darüber hinaus kartierte das Team die Brücken erstmals.



Hochkomplexe Strukturen mit hoher Stabilität

„Üblicherweise beginnt der Bauprozess mit einer Pflanzung: Wer eine Brücke plant, pflanzt einen Setzling des Ficus elastica an einem Flussufer oder am Rand einer Schlucht ein. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Wachstums entwickelt die Pflanze Luftwurzeln“, erläutert Speck. Diese Luftwurzeln werden dann um Bambusstangen oder Palmenstämme geschlungen, horizontal über den Fluss geleitet und am anderen Ufer wieder eingepflanzt. Selbiges geschieht mit kleineren Tochterwurzeln. Auch sie werden in die bestehende Struktur eingearbeitet. Durch das stetige Pflanzenwachstum und verschiedene Schlingtechniken würden die Wurzeln des Gummibaumes hochkomplexe Strukturen bilden, die den Brücken eine große mechanische Stabilität verleihen, berichten die Forscher.

Mechanische Belastung treibt Wurzelwachstum an

Der Gummibaum mit seinen speziellen Eigenschaften spielt dabei eine wichtige Rolle. „Die Wurzeln reagieren auf mechanische Belastungen mit einem sekundären Wurzelwachstum“, erklärt Speck. „Bei Verletzungen kommt es zur sogenannten Überwallung und Kallusbildung, ein Prozess, den man auch vom Wundverschluss bei Bäumen kennt. So können sich zum Beispiel zwei Wurzeln, die zusammengepresst werden, miteinander verbinden und verwachsen.“

Beispiel für vorausschauendes Bauen

Diese spezielle Art des Brückenbaus kann mitunter Jahrhunderte dauern und Generationen beschäftigen. Denn diese Brücken werden von Einzelpersonen, Familien oder auch mehreren Dorfgemeinschaften gebaut und instandgehalten. „Die Brücken sind ein einmaliges Beispiel für vorausschauendes Bauen. Davon können wir viel lernen: Wir stehen heute vor Umweltproblemen, die nicht nur uns betreffen, sondern vor allem nachfolgende Generationen. Dieses Thema sollten wir angehen wie die Khasi“, sagt Ludwig. Als Architekt setzt Ludwig seit langem auf lebende Pflanzen als Baumaterial. Er hat den Begriff der Baubotanik geprägt.

bb