Bioökonomie in Sachsen-Anhalt
Eigentlich ist die Nutzung nachwachsender Rohstoffe für Sachsen-Anhalt ein „alter Hut“. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) wird seit über fünfhundert Jahren mit einem Schwerpunkt auf Material- und Biowissenschaften gelehrt, während um Quedlinburg die Wiege der deutschen Pflanzenzüchtung lokalisiert ist. Mit dem Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben, dem Julius Kühn-Institut, dem Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie und vielen weiteren Einrichtungen ist eine international führende Pflanzenforschung hier schon seit langem ansässig. Der Anbau von Zuckerrüben samt verarbeitender Zuckerindustrie hat in Zeitz eine lange und traditionsreiche Geschichte. Außerdem gehören die mitteldeutschen Agrarböden zu den besten der Bundesrepublik, sodass eine produktive Landwirtschaft seit jeher von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung für die Region ist.
Auch mit agronomischen Spezialfällen kennt man sich im Kohlerevier in Sachsen-Anhalt aus: Neben etablierten Wertschöpfungsketten für Körnerleguminosen (Erbsen, Ackerbohnen und Süßlupinen) und einigen bereits umgesetzten Agroforst-Projekten, ist die Region von einem Schwerpunkt für Sonderkulturen im Bereich Arznei- und Gewürzpflanzen gekennzeichnet. So wird im Harzvorland seit über hundert Jahren Majoran kultiviert. Insgesamt bauen Landwirtinnen und Landwirte auf über tausend Hektar Spezialkulturen wie Kümmel, Fenchel oder Schwarzkümmel an.
Die ebenfalls lokal ansässige chemische Industrie in Mitteldeutschland bündelt einige der führenden Akteure der Branche in Europa. Weit vor dem Entschluss zum Kohleausstieg wurde bereits auf eine strategische Transformation des Chemiesektors hin zu mehr Bioökonomie gesetzt. Heute entsteht am Chemiestandort Leuna ein „Industriepark der Kreislaufwirtschaft“, in dem statt Kohle und Erdöl in Zukunft Biomasse und grüner Wasserstoff verarbeitet werden sollen. Der finnische Konzern UPM Biochemicals baut hier die weltweit erste Bioraffinerie, in der Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft in Biochemikalien umgesetzt werden soll.

Doch auch für die unmittelbaren Auswirkungen des Klimawandels ist der mitteldeutsche Raum ein Modellgebiet. Laut einem Bericht des Umweltministeriums Sachsen-Anhalt ist in allen Landesteilen ein signifikanter Temperaturanstieg durchschnittlich um 1,5 °C im Vergleich zu vorindustriellen Werten zu verzeichnen. Die Anzahl sogenannter Heißer Tage (mit einem Maximum von mehr als 30 °C Lufttemperatur) ist stark gestiegen und hat sich in den Tieflandregionen seit 1961 sogar verdoppelt. Im Harz liegt jedes Jahr weniger Schnee und die Bodenfeuchte nimmt in den meisten Landesteilen messbar ab. Gerade die Landwirtschaft im Mitteldeutschen Revier spürt die Auswirkungen der globalen Erwärmung durch die jährlich steigenden Wetterextreme, ein häufigeres Auftreten von Dürrejahren und regelmäßige Überflutungen.
Als konsequente Maßnahme zur Reduktion von Treibhausgas-Emissionen wurde der bundesweite Kohleausstieg für das Jahr 2038 angesetzt – und damit auch der Wegfall eines wichtigen Wirtschaftszweigs in Mitteldeutschland.
Die Bioökonomie in Sachsen-Anhalt muss also doppelt stark gemacht werden: einerseits durch Maßnahmen zur Anpassung an veränderte, lokale Umweltbedingungen, andererseits durch solche zur Erhaltung eines attraktiven und zukunftsfähigen Wirtschaftsstandorts der baldigen Kohlefolgeregion. Wie dieser Strukturwandel gelingen kann, zeigen die Projekte des DiP Sachsen-Anhalt eindrucksvoll.
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Aufbau einer Modellregion
Es gilt, die Kohlefolgeregion wirtschaftlich und zugleich ökologisch nachhaltig zu gestalten. Die lokale Vernetzung von Unternehmen, Bildungseinrichtungen und landwirtschaftlicher Praxis ist für das DiP-Konsortium eine große Chance, die gewinnbringend genutzt werden will. In diesem Sinne hatte das Land Sachsen-Anhalt in seinem
Strukturentwicklungsprogramm die Bioökonomie und die Digitalisierung als wesentliche Technologiefelder und Treiber für den dazu notwendigen Strukturwandel identifiziert.
Auch bietet die räumliche Nähe zur Holzregion Thüringen und zum Maschinenland Sachsen optimale Möglichkeiten zur Vernetzung. Dieses „Dreiländereck der Kompetenz“, wie Verbundkoordinator Henning Mertens die Region betitelt, schafft durch länderübergreifende Synergien etwas Besonderes: eine Forschungslandschaft, die direkt lokale Herausforderungen und Chancen adressiert.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat auf dieser Basis in Zusammenarbeit mit dem Land Sachsen-Anhalt ein Konzept für die Modellregion der Bioökonomie in Sachsen-Anhalt ausgearbeitet. Die Fördergebiete sind die ehemaligen Kohleregionen in Sachsen-Anhalt. 16 Verbundprojekte und drei Nachwuchsgruppen werden durch die vom Land ausgearbeitete Fördermaßnahme bei der Erforschung und Umsetzung des wirtschaftlichen, pflanzenbasierten Strukturwandels unterstützt. Die Fördermaßnahme des BMBF ist zunächst für den Zeitraum April 2024 bis Dezember 2028 geplant. In diesen knapp fünf Jahren wird ein Netzwerk aus Hochschulen, Unternehmen und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten, um die Potenziale einer innovativen Bioökonomie in Sachsen-Anhalt herauszuarbeiten.
Die Verbindung von pflanzlicher Wertschöpfung, digitalen Lösungen und messbarer Nachhaltigkeit soll bereits zehn Jahre vor dem geplanten Kohleausstieg Ideen und marktgerechte Produkte hervorbringen, die auf diese Bestrebungen einzahlen. Im Jahr 2029 soll sich durch den Verbund eine Modellregion für eine „digitalisierte, wettbewerbsfähige und klimaneutrale pflanzliche Bioökonomie etabliert haben, welche sich durch wissenschaftliche Exzellenz, innovative Industrien und attraktive Arbeitsplätze auszeichnet“ (zur Webseite des DiP-Konsortiums).

Der Strukturwandel im gesamten Mitteldeutschen Revier ist beschlossene Sache. Die Abkehr vom Kohleabbau, der zuvor die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung der Region legte, ist der nächste logische Schritt auf dem Weg in eine klimaneutrale Wirtschaftsweise. Die fachlichen Kompetenzen und etablierten Industrien sind bereits vor Ort und treiben den Strukturwandel maßgeblich mit an. So entsteht in Halle (Saale) das Kompetenzzentrum Kommunale Wärmewende (KWW), in Leuna arbeitet die weltweit größte Elektrolyse-Anlage für grünen Wasserstoff und in Cochstedt wird ein Standort des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR) eingerichtet. Außerdem wird das Schienennetz im Mitteldeutschen Revier gestärkt und in ländlichen Regionen ausgebaut.
Die Digitalisierung der Pflanzenproduktion, die von den Projekten des DiP-Verbunds bearbeitet wird, rundet das Vorhaben der Modellregion ab. Bei erfolgreicher Umsetzung der Projektziele erhofft sich der DiP-Verbund, eine Art bioökonomische Blaupause zu schaffen, die über die DiP-Modellregion hinaus zum bundesweiten Vorbild werden könnte. Die nötige Strahlkraft geht dabei von drei wissenschaftlichen Leuchttürmen aus, die für die jeweiligen Projektkategorien stehen.
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Leuchttürme der Kreislaufwirtschaft
Im Spotlight des ersten Leuchtturms stehen fünf Verbünde und eine Nachwuchsgruppe zur Erforschung von Wertschöpfungsketten landwirtschaftlicher Kulturpflanzen. Von Getreide und Stroh über Zuckerrüben bis hin zu Erbsen werden die vorhandenen Stärken im Bereich Pflanzenbau und Lebensmittelchemie aus der Region gebündelt und um digitale Komponenten erweitert. So wird zum Beispiel im Projekt MAGDI die Innovationskraft von Magnetresonanz-Imaging (MRI) mit moderner Künstlicher Intelligenz (KI) verknüpft, um neue Möglichkeiten bei der Phänotypisierung von Nutzpflanzen zu eröffnen.
„Die am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung etablierte MRI-Plattform erweitert das bestehende Phänotypisierungsnetzwerk in Deutschland. Sie ermöglicht Analysen, die zuvor kaum möglich waren”, so Dr. Ljudmilla Borisjuk und Dr. Hardy Rolletschek vom MAGDI-Projekt. „Kombiniert mit KI eröffnet diese Methode neue Perspektiven in Saatgut-Phänotypisierung und Kulturpflanzenverbesserung.”

Den zweiten Leuchtturm bilden drei Verbünde und eine Nachwuchsgruppe zur Ergründung nachhaltiger und alternativer Agrarsysteme. Hier wird der Acker in seiner agrarökologischen Gesamtheit betrachtet, Fruchtfolgen und Mischkulturen systematisch untersucht und digitale Lösungen vor allem für das Bio-Segment geprüft. Das Projekt iQ-Hanf leistet beispielsweise seinen Beitrag durch Feldforschung zu geeigneten Sorten und Anbausystemen für den Nutzhanfanbau und fasst gleichzeitig das digitale Qualitätsmanagement auf Basis von maschinellem Lernen entlang der Wertschöpfungskette dieser Kulturpflanze ins Auge. „Am Beispiel der landwirtschaftlichen Kulturpflanze Hanf wird in der Region durch eine Anbaufläche von 600 Hektar oder mehr ein pflanzlicher und CO2-neutraler Rohstoff erzeugt, der zu natürlichen und nachhaltigen Bau- und Dämmstoffen verarbeitet wird”, berichtet Projektkoordinator Heinrich Rennebaum.
Unter dem dritten Leuchtturm werden sieben Verbünde und eine Nachwuchsgruppe zusammengefasst, die sich um die genannten Spezialfälle kümmern: Mit der Verwertung von Reststoffen und der Erprobung pflanzlicher Sonder- und Nischenkulturen liegt hier der Schwerpunkt auf bislang vernachlässigten Wert- und Stoffströmen. Auch dabei kommen immer wieder technologische Hilfsmittel wie KI oder mikrobiologische Prozesstechnik zum Einsatz. In Tres2Cera sollen zum Beispiel biotechnologische Verfahren die Gewinnung von Ceramiden aus Apfeltrester und damit ein sauberes Medizinprodukt aus pflanzlichen Reststoffen ermöglichen. BioCasNavi zielt hingegen auf die Entwicklung einer KI-Plattform ab, die enzymatische Modellierung und Produktionsprozesse für die nachhaltige Katalyse optimieren wird.

„Man kann unsere lokal erhobenen Ergebnisse national auf andere apfelproduzierende Gegenden übertragen. Persönlich liegt dem Team auch am Herzen, umweltfreundliche, einfache und preiswerte Verfahren zu etablieren”, so Prof. Dr. Bernhard Westermann vom Projekt Tres2Cera. Dr. Mehdi Davari setzt als Koordinator von BioCasNavi ebenfalls auf die Entwicklung klimaneutraler Verfahren und ergänzt: „Dieser Ansatz ist darauf ausgerichtet, die Innovation chemischer Prozesse zu beschleunigen, den Übergang zu nachhaltigen Technologien zu unterstützen und eine hohe Qualität innerhalb der pflanzlichen Wertschöpfungsketten in Sachsen-Anhalt zu gewährleisten.” Die Hoffnung sei, dass diese Region ein Beispiel dafür abgeben könnte, wie strategische Investitionen in bioökonomische Innovationen zu ökologischer Nachhaltigkeit, wirtschaftlichem Wohlstand und einer verbesserten Lebensqualität für die lokalen Gemeinschaften führen könnten. Ergänzt wird die Arbeit im DiP-Verbund durch zahlreiche Kooperationen mit lokalen Partnerorganisationen.
Eine Übersicht zu den 19 Projekten im DiP-Verbund finden sich auf der Webseite des Konsortiums.
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Perspektiven für die einstige Kohleregion
Mit dem Aufbruch in eine nachhaltige Bioökonomie macht das südliche Sachsen-Anhalt deutlich, dass Kohleausstieg und Strukturwandel nicht zwangsläufig ein Wirtschaftsrisiko darstellen – im Gegenteil: Eingebettet in internationale Trends, arbeitet die Region im Herzen Deutschlands daran, Stärken weiter auszubauen und so erfolgreich im Wettbewerb um Fachkräfte und Innovationen zu sein. Die Vision der lokalen Akteure inklusive des DiP-Konsortiums ist es, dass das ehemalige Kohlerevier im Jahr 2030 zu den attraktivsten und innovativsten Regionen in Europa zählt und dynamisches Wachstum mit hoher Lebensqualität verbindet.
Durch visionär gestaltete Wirkungsräume, die länderübergreifend agieren und sich gegenseitig durch Wissens- und Technologietransfer unterstützen, kann Sachsen-Anhalt und hier besonders die Kohlefolgeregion auch in Zukunft ein Standort florierender Wirtschaft und guten Lebens sein. Die schon jetzt hochengagierte, junge Gründerszene in den urbanen Zentren der Region wird sich durch den Mobilitäts- und Strukturausbau in die ländlichen Regionen erweitern.
Kreislaufwirtschaft ist damit nicht nur eine Idee oder eine theoretische Strategie für einen mitteldeutschen Aufschwung. Mit dem Konsortium für Digitalisierung pflanzlicher Wertschöpfungsketten kann die Bioökonomie ganz praktisch zum Schlüssel für einen zukunftsfähigen Wirtschaftsstandort im südlichen Sachsen-Anhalt werden. Ein Revier erfindet sich neu.
Weiterführende Informationen
News: Leuna: Bioökonomie als Zukunftswirtschaft
DiP Sachsen-Anhalt Modellregion der Bioökonomie. www.dip-sachsen-anhalt.de
Metropolregion Mitteldeutschland: Die Bioökonomieregion Mitteldeutschland stellt sich vor
Landesportals Sachsen-Anhalt: Bundesvorhaben DiP
Klimawandel in Sachsen-Anhalt. Monitoringbericht 2020. Herausgegeben durch das
Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft und Energie des Landes Sachsen-Anhalt. PDF-Download