Berlin: Industrielle Biotechnologie trifft Foodtech

Berlin: Industrielle Biotechnologie trifft Foodtech

Auf einer Tagung des Industrieverbundes Weiße Biotechnologie e.V. (IWBio) diskutierten Akteure in Berlin über Potenzial und Innovationshürden von biotechnologischen Alternativen zu Fleisch-, Milch- und Ei-Produkten.

IWBio Workshop 2023

Die Zahlen sprechen für sich: Deutschland war 2022 mit 1,9 Mrd. Euro der mit Abstand größte Absatzmarkt für Proteinlebensmittel, die ohne Tiere produziert werden. Die sonst bei Lebensmittelinnovationen skeptischen Deutschen sind offen für durch optimierte Mikroorganismen und zellbasiert hergestellte Milchprodukte, Fisch und Käse. Gut 60 % der über 25-Jährigen und knapp 80 % der unter 25-Jährigen wollen sie aktuellen Umfragen zufolge zumindest probieren. Denn nicht nur das größere Tierwohl, sondern auch eine CO2-Einsparung von 20 % bis 30 %, von 70 % landwirtschaftlicher Fläche, Dünger, Pestiziden, Futtermitteln und von 65 % Wasser lassen die Präzisionsfermentation und zellbasierten Alternativen für viele Verbraucher in Zeiten der Klimakrise attraktiv erscheinen.

Milliardenmarkt erschließen

„Akzeptanz ist nicht das Problem“, betonte Ivo Rzegotta vom Foodtech-Thinktank Good Food Institute auf dem Jahresworkshop des Industrieverbundes Weiße Biotechnologie e.V. (IWBio) in Berlin. Selbst Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger signalisierte in ihrem Grußwort zur IWBio-Tagung ungewöhnlich deutlich politische Unterstützung: „Ich bin mir sicher, dass diese Produkte [Proteine aus Präzisionsfermentation und zellbasiertes Protein] unsere Ernährung revolutionieren werden. Die Biotechnologie ist der Schlüssel dazu – ob bei der Herstellung von tierfreiem Rindfleisch oder von [rekombinantem] Erbsenprotein. Da wartet ein Milliardenmarkt, der erschlossen werden will“, so die Ministerin.

Warum Unternehmen weltweit trotzdem die Produktzulassung außerhalb der EU suchen, nicht in Deutschland ihre Produktion skalieren und selbst Firmen, die in Deutschland bleiben wollen, ins Ausland schielen, diskutierten gut 50 Industrieexperten des IWBio e.V. in den hellen Räumlichkeiten des mikrobiellen Käse- und Ei-Herstellers Formo Bio GmbH.

„Über viele Jahre sind fast alle Investitionen nach Nordamerika geflossen, das ist nun vorbei“, so Rzegotta. Seit zwei Jahren versucht er, politischen Entscheidungsträgern in Deutschland Erfolgsmodelle aus EU-Nachbarländern wie den Niederlanden, Dänemark, der Schweiz und Großbritannien schmackhaft zu machen. „Europa holt auf, Deutschland aber zieht nur 1,6 % der Investitionen an und fällt trotz seiner starken Marktstellung aktuell im globalen Vergleich stark zurück.

Schleppende EU-Zulassungsverfahren bei Novel Food

Als einen Grund führt Rzegotta das schleppende EU-Zulassungsverfahren für die unter die EU-Novel-Food-Verordnung fallenden Produkte der Präzisionsfermentation und Zellkultivierung an. In Singapur und den USA dauert diese bei ähnlicher Qualität deutlich unter 12 Monaten, in der EU 18 bis 48 Monate. „Es gibt keinen Druck oder Anreiz für die zuständige Behörde EFSA schneller zu arbeiten“, verrieten Industrievertreter am Rande der der Tagung bioökonomie.de. Und auf die Frage, weshalb man denn nicht einfach die Zulassungsstrategie der USA und Singapur kopiere, gab es wortreiche Ausführungen, aber keine konkrete Antwort von den anwesenden Vertretern der Ministerien und EU-Kommission.

Stattdessen unterstrich der EU-Repräsentant Adrian Leip, dass die Kommission große Furcht vor einem Firmenexodus aus Europa habe und darüber nachdenke, wie die Zulassung von Novel Food beschleunigt und Widerstände von mächtigen Lobbygruppen wie den Bauernverbänden verringert werden könnten.

„EU-Zulassungsprozess zu angstbetont“

Als zweiten Grund nennt Rzegotta, dass der EU-Zulassungsprozess für neuartige Lebensmittel nicht chancen-, sondern angstbetont sei. „Nachdem die Sicherheit des Produktes durch Daten belegt ist, stimmen im letzten Schritt vor der Zulassung EU-Repräsentanten im GAFF-Komitee noch einmal über das Risikoprofil des Produktes ab“, so Rzegotta, der in Berlin mehr Transparenz hinsichtlich der Entscheidungskriterien einforderte, um bisherigen EU-Lobbyismus einen Riegel vorzuschieben. Da könne die sichergeglaubte Marktzulassung noch einmal kippen. Planungssicherheit für Unternehmen sehe anders aus.

Wie Unternehmen trotz der EFSA-Bürokratie im Land gehalten werden könnten, hatten die Niederlande in diesem Jahr mit der Einführung einer Verkostungsklausel vorgemacht. Die nationale Bestimmung, die die Schweiz und Großbritannien bereits in Kürze einführen wollen, ermöglicht es den Herstellern unbürokratisch, ihr Produkt von interessierten Verbrauchern verkosten zu lassen und damit bereits vor der EU-Marktzulassung und großen Investitionen die Produktakzeptanz zu testen. Die Zulassung braucht laut Branchenkennern gerade einmal zwei Wochen. „So etwas kann es auch in Deutschland geben“, so Rzegotta.

Fermentationskapazitäten in Deutschland noch ausbaufähig

Daneben nennt er aber auch die bisher fehlende Bereitschaft der Bundesregierung, Unternehmen, die in den aufkommenden Milliardenmarkt streben, mit öffentlichen Geldern zu unterstützen. Während Großbritannien 48 Mio. Pfund, Frankreich 65 Mio. Euro, die Niederlande 60 Mio. Euro und Spanien 12 Mio. Euro in die Skalierung der mikrobiellen und zellbasierten Proteinproduktion stecken, flossen in Deutschland laut Fraunhofer-ISI den Gründern gerade einmal 3 Mio. Euro im selben Zeitraum zu. Als erster Staat hat Dänemark unlängst die erste Plant-based Protein-Strategie in Europa vorgestellt. „Wir brauchen deutlich mehr als 10 Mio. Euro und ein langfristiges Comittment der Industrie, um mehr Fermentationskapazität in Deutschland aufzubauen,“ erläuterte Martin Langer, Executive Vice President und Managing Director BioScience Operations der BRAIN Biotech AG.

Sowohl in Einzelvorträgen von Firmengründern und Ernährungsexperten als auch Paneldiskussionen wurde schnell klar, dass deutsche Biotech-Entwickler zwar derzeit noch hinreichend Skalierungskapazitäten bei CDMOs wie Evonik, der Corden Biochem GmbH oder der Wacker AG vorfinden, aber durch die trägen Zulassungsverfahren, wenig spezifische und förderliche Rahmenbedingungen sowie durch Steuerdiskriminierung gegenüber tierbasierten Lebensmitteln – sie müssen 19 statt 7 Prozent Mehrwertsteuer auf den Nettopreis aufschlagen –  und ein konservatives, Biotech-skeptisches Vermarktungs-Mindset der Großhändler ins augenscheinlich angstfreiere Ausland getrieben werden.

Formo: Erste Markzulassung in Singapur angestrebt

Formo Bio-Gründer und CEO, Raffael Wohlgensinger erklärte, dass seine 2019 gegründete Firma zwar Wege suche, in Deutschland zu entwickeln und zu produzieren, die Marktzulassung des ersten Käseprodukts auf Basis bakteriell hergestellten Caseins aber Anfang 2024 in Singapur stattfinden wird. Da das Geld der ersten 42 Mio. Euro-Finanzierungsrunde für die Produktentwicklung nahezu aufgebraucht sei, suche man derzeit nach neuen Investoren.

Obwohl er den europäischen Ansatz wirklich mag stelle er dabei fest, dass Regierungen außerhalb Deutschlands und Europas wesentlich investitionsgeneigter seien. Dubai etwa habe 100 Mio. Beteiligungskapital und Unterstützung in gleicher Höhe für die Skalierung der Produktion in Aussicht gestellt – und das sei kein Einzelfall. „Es stellt sich die Frage, bleiben wir hier oder gehen wir dahin, wo es einfacher ist“, so der Schweizer Firmenmitgründer.
Dass es wirklich nicht am EU-Beihilferecht liegt, dass mit deutschen Steuergeldern finanzierte Innovationen ins EU-Ausland abwandern oder außereuropäisch zulassen, sondern an mangelnder Risikobereitschaft und dem bürokratischen Anhaften an Altgewohntem, erklärten auch andere Firmen auf der IWBio-Jahrestagung.

Dass sie mit der Produktion loslegen wollen, daran ließen die auf die effiziente und kostengünstige Produktion von Einzelzellprotein und Zellextrakten spezialisierte Hamburger Microharvest GmbH und auch die auf Pilzmyzel-Fermentation fokussierte Mushlabs GmbH auf der Tagung keinen Zweifel.

Gleichwohl will die Microharvest GmbH Ende November ihre Produktionspilotanlage mit einer Produktionskapazität von 100 kg Einzelzellprotein pro Tag in Lissabon starten. „Nächstes Jahr werden wir weiter skalieren“, so COO Jonathan Roberz. Die angesichts von 90 % überfischter Bestände und wachsender Mikroplastik-Belastung der Gewässer an zellbasiertem Fisch arbeitende Hamburger Bluu GmbH will im nächsten Jahr zwar hierzulande in den 500 Liter-Maßstab skalieren, wird aber in Singapur zulassen.

Der mit 3.000 Kubikmetern Fermentationsvolumen größte Dienstleister Corden Biochem GmbH sieht zudem Deutschlands Energiepolitik als Wettbewerbsnachteil. Wenn man aus allen möglichen Technologien aussteigt, ohne zugleich einen Ausgleich in ähnlichem Maßstab zu schaffen, dann fährt man den Karrten in den Dreck“, findet Geschäftsführer Klaus Pellengahr. In Frankreich koste Energie ein Drittel weniger als in Deutschland. „In einem dreiviertel Jahr werden wir in der Biotechnologie sehen, was wir derzeit in der Chemieindustrie sehen: den großen Exodus“, prognostiziert er. Andreas Löffert, Geschäftsführer des Zweckverbandes Straubing-Sand, kritisiert, dass politische Hemmnisse vor allem in den zuständigen Ministerien die Kosten eine Biotech-Multipurpose-Anlage, die im zweiten Quartal 2025 in Betrieb gehen soll, auf 90 Mio. Euro mehr als verdoppelt hätten.

„Biotech-Produkte kennzeichnen“

Kritische Worte für die Branche, die sich bemüht zeigt, ihre Produkte als gentechnikfrei darzustellen, gab es von Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel, vormals Mitglied des Bioökonomierates. Unabhängig davon, dass biotechnisch optimierte Produktionsorganismen Proteine ins Medium ausscheiden und im Endprodukt – ähnlich wie bei der Herstellung von Vitaminen und Lebensmittelenzymen – nicht mehr vorhanden und somit in der EU nicht kennzeichnungspflichtig sind: „Wir müssen klar benennen, dass wir mithilfe von Biotechnologie produzieren und zu deren Vorteilen stehen.“


Dies gelte gerade deshalb, weil die Biotech-Produkte aus Daniels Sicht meist teurer seien als die Billigware aus Massentierhaltung, solange deren immens hohe Umweltkosten nicht eingepreist werden müssen. Zwar wiesen die mit Biotechnologie hergestellten Proteinprodukte keine Allergene, Antibiotika, Wachstumshormone und Mikroplastik auf wie die konventionellen Fleisch-, Fisch- und Milchprodukte. Doch werbepsychologische Tricks bei der Produktwerbung für tierische Lebensmittel „ohne Gentechnik“, wie das Zeigen glücklicher Familien und spielenden Kindern mit Naturhintergrund, ließen die offenkundig synthetischen Biotech-Produkte ohne faktischen Grund schlechter dastehen als die etablierten Billig- oder High Class-Bioprodukte, erläuterte Victoria Reinsch von Formo Bio. Dagegen helfe nur Aufklärung und Ehrlichkeit sowie positive Bilder, die die Innovation durch Biotech auch emotional begreifbar und nachvollziehbar machten.

Logistik- und Verteilungsprobleme

Daniel zeigte sich begeistert darüber, „dass die Verbraucher zunehmend realisieren, dass sie mit Messer und Gabel am Weltgeschehen partizipieren können. Bisher war nur der Preis entscheidend. Nun geht es plötzlich um Tierwohl, Gesundheit, Regionalität, die für die Produktion benötigte Fläche und den Klimaschutz.“ Allerdings fand sie auch kritische Worte für den Proteinhype und belegte mit Zahlen zum Proteinbedarf, dass der Proteinhunger der Welt zwar steige, aber es nicht zu wenig Protein, sondern nur ein Logistik- und Verteilungsproblem gebe – und Mikronährstoffe, Kalorien und Fette nicht aus den Augen verloren werden dürften.

Selbst bei vollem Ersatz des Tierproteins durch Proteinalternativen läge das Einsparpotenzial an CO2-Emissionen bei maximal 20 bis 30 %. Auch stellte sie klar, dass in Deutschland zwar viel von Ernährungswende geredet werde, dies aber bedeute, dass man Nüsse, Hülsenfrüchte, Gemüse importieren müsse und bisher niemand beantworte woher. Gesunde Ernährung erfordere doppelt so viel Gemüse, dreimal so viele Hülsenfrüchte und viermal so viele Nüsse als hierzulande produziert würden.

Begrüßt wurde auf der Tagung der Vorschlag des BMBF-Referenten Enrico Barsch, die Zusammenarbeit mit dem Bundeswirtschaftsministerium zu suchen, um angemessene Regeln zu etablieren, die den Technologietransfer und die Kommerzialisierung von F&E im Foodtech-Sektor fördern. Diesen sieht Langer, gemessen an seinem CO2-Reduktionspotenzial, noch zu wenig priorisiert. Von den in den USA zwischen 2010 bis 2021 in den Klimaschutz investierten 2,4 Billionen US-Dollar seien gerade einmal 14,2 Mrd. US-Dollar in das Feld der Präzisionsfermentation und zellbasierten Proteinproduktion geflossen. „Eine Unwucht, wenn man bedenkt, wie die biotechnologischen Methoden helfen könnten, an tierbasierten CO2-Emissionen einzusparen,“ so Langer.

Thomas Gabrielczyk