Molekulares Lego: Smarter bauen

Molekulares Lego: Smarter bauen

Forscher aus Würzburg und München haben molekulare Bausteine für innovative Fenster und selbstauflösenden Müll entwickelt.

Münchner Forscher entwickeln molekulare Strukturen, die sich selbst abbauen und wiederverwendet werden können.

Unsere Körper, Fensterscheiben oder Plastikflaschen – sie alle bestehen aus verschiedenen Molekülen. Der große Unterschied: während die Moleküle in unseren oder anderen lebenden Zellen in ständigem Austausch mit ihrer Umwelt stehen, befinden sie sich in künstlich produzierten Gegenständen in einem starren Zustand. Dies beeinträchtigt und erschwert allerdings den Abbau dieser Materialen. Zwei bayerische Forschungsgruppen, eine von der Universität Würzburg unter der Leitung von Dirk Kurth und eine von der Technischen Universität München unter der Leitung von Job Boekhoven, haben nun neue, außergewöhnliche Eigenschaften von Molekülen untersucht, die zu smarten Fensterscheiben oder selbstabbauenden Materialien führen könnten.

Ein Molekül zwischen flüssig und fest

Das Würzburger Team um Dirk Kurth hat eine bestimmte Klasse von Polymeren untersucht: die Metallo-supramolekularen Koordinationspolyelektrolyte oder kurz MEPE. Die Forscher berichten in der Fachzeitschrift „Chemistry – A European Journal“. Kurth ist Experte auf dem Gebiet der MEPE, denn er hat diese Stoffklasse Mitte der 1990er Jahre entdeckt und forscht seitdem an ihnen. „MEPE verfügen über herausragende elektrochrome Eigenschaften“, erklärt er. Das bedeutet: Legt man eine geringe Spannung von wenigen Volt an Materialien, die aus MEPE aufgebaut sind, ändern sich ihre Farbe. Damit eignen sie sich beispielsweise zur Herstellung einer innovativen Verglasung, sogenannter Smart Windows. Zudem besitzen sie noch weitere interessante Eigenschaften: Als Bestandteil poröser Festkörper sind sie in der Lage, ihr Fließverhalten im elektrischen Feld zu ändern. Ihre Eigenschaften können also zwischen flüssig und fest pendeln. Damit bieten sie sich beispielsweise auch für einen Einsatz in der Medizin an, um frisch operierte Gelenke vor hohen Belastungen zu bewahren.

Selbstbauendes molekulares Lego

Obwohl diese Eigenschaften für technologische Entwicklungen von zentraler Bedeutung sind, sind Aufbau und Entstehung dieser neuartigen Polymerklasse bisher kaum verstanden. Ihre Herstellung jedoch ist denkbar einfach. „Das ist eine Art molekulares Lego, bei dem sich die Türmchen von selbst aufbauen“, erklärt Kurth. Die Forscher müssen dazu nur im Labor zu einer Lösung eines Metallsalzes eine Lösung sogenannter Terpyridinliganden hinzufügen – der Rest geschieht ganz von selbst. Die Forscher konnten außerdem zum ersten Mal die genauen Bedingungen bestimmen, unter denen die Prozesse stattfinden. Somit können sie nun exakte Vorgaben definieren, um schließlich das Material mit den gewünschten Eigenschaften zu erhalten. Einen sehr einfachen Weg, den Prozess zu beschleunigen haben die Forscher auch entdeckt: Durch die Zugabe von Salz entstehen die MEPE schneller.

Das Forscherteam unter der Leitung von Job Boekhoven an der TU München erforscht neue molekulare Bausteine, die sich erst zu Strukturen verbinden und anschließend selbst recyceln.

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Die Natur recycelt sich selbst

Die Forscher um Job Boekhoven an der TU München haben sich im Gegensatz dazu nicht mit dem Aufbau neuer Materialien, sondern mit deren Abbau beschäftigt. Denn die durch die Menschheit verursachten Müllberge wachsen immer weiter an. Noch ist Recycling die Methode der Wahl um den Müllbergen Herr zu werden, doch die Methode ist teuer und nicht immer praktikabel. Deshalb verfolgt Boekhoven einen anderen Weg und nimmt sich die Natur als Vorbild. Denn die produziert keine Müllberge: in biologischen Zellen werden die Moleküle ständig recycelt und zum Bau neuer Einheiten verwendet. Einige dieser Moleküle bilden größere Strukturen, supramolekulare Einheiten, die als Struktur-Bausteine der Zellen dienen. „Diese Dynamik,“ sagt Job Boekhoven, „hat uns dazu inspiriert Materialien zu entwickeln, die sich selbst entsorgen, wenn sie nicht mehr benötigt werden.“ Ihre Ergebnisse haben sie in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.

Ohne Energie zerfallen die Strukturen

Lebende biologische Materialien wie Haut und andere Gewebe und Organe benötigen für ihren Aufbau, Erhalt und Reparatur ständig Bausteine und Energie. „Diese wird beispielsweise durch Adenosintriphosphat, kurz ATP, zur Verfügung gestellt“, erläutert Boekhoven. Die neuen Materialien, die er mit einem interdisziplinären Team von Physikern, Chemikern und Ingenieuren an der TUM erforscht, orientieren sich an diesem natürlichen Vorbild: Die molekularen Bausteine sind zunächst frei beweglich. Gibt man jedoch Energie in Form hochenergetischer Moleküle zu, verbinden sie sich zu supramolekulare Strukturen. Ist die Energie aufgebraucht, zerfallen von selbst. Die Lebensdauer kann dabei durch die zugegebene Menge von Energie vorherbestimmt werden. Im Labor lassen sich die Bedingungen bereits so wählen, dass die Materialien von selbst nach einem bestimmten Zeitraum – Minuten oder Stunden – zerfallen. Und indem man immer wieder hochenergetische Moleküle zugibt, können die Bausteine weitergenutzt werden und der Lebenszyklus verlängert werden.

Metastabile Molekülkomplexe mit viel Potenzial

Die Wissenschaftler entwarfen verschiedene Anhydride, die sich zu Kolloiden, supramolekularen Hydrogelen oder Tinten zusammensetzen. Dabei verwenden sie Carbodiimid als Energielieferant. Die resultierenden Komplexe werden als metastabil bezeichnet, und hydrolysieren mit Halbwertszeiten zwischen Sekunden und mehreren Minuten zu ihren ursprünglichen Ausgangsmolekülen (Dicarboxylaten). Weil sich die Moleküle zwischenzeitlich zu sehr unterschiedlichen Strukturen verbinden, ergeben sich zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten: Kugelige Kolloide beispielsweise lassen sich mit wasserunlöslichen Molekülen beladen – man könnte sie nutzen, um Medikamente gegen Krebs direkt zur Tumorzelle zu transportieren. Am Ende ihrer Mission würden sich die Kolloide selbständig auflösen und die Medikamente lokal freisetzen. 

Aus Molekülen, die sternförmige Anordnungen bilden, ließen sich Tinten mit exakt definierter Haltbarkeit herstellen. Ob es gelingt, nach dem Vorbild der Natur eines Tages auch supramolekulare Maschinen oder Handys zu bauen, die verschwinden, wenn sie nicht mehr benötigt werden? Ausgeschlossen sei dies zwar nicht, meint Boekhoven, „aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Noch arbeiten wir an den Grundlagen.“

jmr