Die Spurlosen
Anne Lamp & Johanna Baare
Beruf:
Verfahrensingenieurin & Unternehmensberaterin
Biopionierinnen für:
Biomaterialien als Kunststoffersatz
Glücklich tragen zwei Gründerinnen ihre Weltneuheit in die Nachmittagssonne.
Das warme Licht verleiht dem sonderbaren Material einen ungewöhnlichen Glanz, lässt es gelborange aufleuchten. Was sie in der Hand halten, hat kein großes Gewicht. Es wirkt verformt, wie eine von Hitze verbackene Folie mit bizarren Rissen und Rändern. Ganz so, als ob ein Blitz in einen Bernstein eingeschlagen und ihn zur Fläche gezerrt hätte, unwirklich, aber organisch.
Bernstein ist als schöner Schmuckstein beliebt und er fasziniert aufgrund seiner Herkunft aus dem versteinerten Harz fossiler Bäume. Die skurrile Folie dagegen ist flexibel: sie löst sich wieder auf und verschwindet. Sie zählt zu einer Familie organischer Materialien, welche die vorteilhaften Eigenschaften von Kunststoffen bieten. Gleichzeitig lassen sie sich unter natürlichen Bedingungen vollständig kompostieren. Perfekt passt dazu der Name: traceless materials. Die Ausgangsstoffe stammen aus landwirtschaftlichen Resten. Deshalb gibt es auch keine Konkurrenz zur Produktion von Nahrungsmitteln:
"Wir wollen keine Felder bestücken, wo nur unser Material angebaut wird. Deshalb benutzen wir Nebenprodukte der Getreideverarbeitung, Reststoffe, die in sehr großen Mengen anfallen. Wenn beispielsweise die Stärke einer Pflanze oder eines Korns genutzt wird für die Herstellung von Speisen, Bier oder Alkohol, dann gibt es immer einen Teil des Korns, der nicht genutzt wird, den nehmen wir als Ausgangsbasis". -- Anne Lamp
2020 haben die Verfahrensingenieurin Dr. Anne Lamp und die Unternehmensberaterin und Psychologin Johanna Baare das Circular Bioeconomy Start-up traceless materials in Hamburg aus der Taufe gehoben. Der wichtigste Punkt für die Gründerinnen: das Material basiert auf dem biologischen Kreislaufdenken, das heißt alles, was das Produkt ausmacht und zu seiner Herstellung führt, muss seine Nachhaltigkeit unter Beweis stellen, und zwar kontinuierlich:
Uns geht es um eine wissenschaftliche Messung des Impacts, den wir generieren. Damit hat eigentlich auch alles angefangen, weil wir gemerkt haben, dass das, was wir hier machen, darf nicht nur an einer Stelle gut sein und an einer anderen Stelle schlecht. Es muss überall gut sein, nur dann haben wir wirklich eine ganzheitliche Lösung. -- Johanna Baare
Tatsächlich werden verfügbare Plastikalternativen wie recycelte Kunststoffe oder konventionelle Biokunststoffen bestimmten Produktanwendungen nicht gerecht oder sie belasten die Umwelt, gerade wenn sie nicht fachgerecht entsorgt werden.
Kennengelernt haben sich Anne und Johanna bei Projekt Together, einem Berliner Inkubator, der Leute mit guten Ideen und Leute mit Geschäftserfahrung zusammenbringt. Die Entscheidung zur gemeinsamen Unternehmensgründung sieht Johanna als Glücksgriff:
Den Wunsch zu gründen gab es schon während meines MBA-Studiums. Ich war auf der Suche nach einer Idee, an die ich so fest glaube, dass sie auf den Markt muss und die mich auch durch die schweren Zeiten tragen würde. Traceless hat mich absolut überzeugt. Anne und ich passen klasse zusammen, indem sie die Entwicklung des Materials und unsere Technologie vorantreibt und ich all das, was so im Hintergrund noch laufen muss, um ein Unternehmen aufzubauen, verantworte. -- Johanna Baare
Schon das Auftreten des Gründerduos erweckt den Eindruck, als haben sich da zwei gesucht und gefunden: dieselbe Größe, die gleiche Kleidung, Pferdeschwanz, Gewinnerlächeln. Für die Kamera posieren Anne und Johanna vor der Glasfassade des ISI-Zentrums für Gründung, Business & Innovation. Hier im niedersächsischen Buchholz in der Nordheide, rund 30 Kilometer südlich von Hamburg haben sie die besten Bedingungen für die erste Ausbaustufe der Firma gefunden, während ihre Geschäftsidee anderenorts Furore macht.
So ließen sich die Investoren Planet A und B.value sowie der High-Tech-Gründerfonds davon überzeugen. On Top gab es eine satte Förderung von 2,4 Mio. Euro durch den European Innovation Council (EIC). Traceless Materials wurde 2021 gar als meistprämiertes Start-up ausgezeichnet. Erstmals landete damit ein rein weibliches Team auf Platz 1 der Rangliste der Deutschen Top 50-Start-ups. – Eine Entwicklung, die für Forschende immer noch außergewöhnlich ist:
Anne Lamp & Johanna Baare im Video
"Der klassische Weg für Forscher*innen ist nicht ein Startup zu gründen. Gar nicht. Das kam von der Industrie, dass ich gemerkt habe, an diesem spezifischen Material oder generell an Bio-Materialien gibt es ein großes Interesse und da ist eine wahnsinnige Marktlücke. Deshalb dachte ich, was wir da entwickelt haben, kann nicht in der Schublade verschwinden". -- Anne Lamp
Das umweltfreundliche Bioraffinerieverfahren hat Anne im Rahmen ihrer Promotion an der TU Hamburg entwickelt. Die neue Anlage am Standort Nordheide verbirgt sich hinter verschlossenen Türen: Blitzblanke Bioreaktoren und eine Menge Rohrleitungen – wie und warum hier was und womit verbunden ist, bleibt Betriebsgeheimnis. Die Magie passiert im Innern der Kessel: An die 90 % weniger CO2-Ausstoß verspricht die Fertigung des spurlosen Materials im Vergleich zur der von Neukunststoffen.
Im Applikationslabor sind die Türen dagegen offen. Messapparaturen, Spritzgussmaschinen, Regale voller Proben. An jeder Ecke wird getüftelt, das Material analysiert und seine Qualität verbessert. Über 20 junge Expertinnen und Experten haben Anne und Johanna mittlerweile verpflichtet. Das internationale Team arbeitet konzentriert in lässiger Atmosphäre, getragen von der gemeinsamen Vision, die Welt schon bald mit Traceless-Material zu beglücken.
In der Industrie beginnt die Kunststoffherstellung mit einem losen Stoffgemisch. Genau das möchte Traceless durch ein Bio-Granulat ersetzen. Die große Herausforderung: das Material so zu definieren, dass es von den Herstellern auf konventionellen Maschinen verarbeitet werden kann, und zwar zu verschiedenen Endprodukten: Hartplastikteile, Plastikfolien oder hauchdünnen Beschichtungen.
So optimiert das Laborteam verschiedene chemische Formulieren, die in einer Reihe von Studien Anwendung finden: Hier wird das geschmolzene Material wie goldener Honig auf Papier gestrichen. Dort quillt es zäh und wurmförmig aus einer Düse. Genauso gilt es, die Prozessparameter wie Temperatur und Scherrate richtig einzustellen. Die zentralen Eigenschaften von Kunststoff sind bereits erreicht: Traceless Materialien sind lagerstabil, barrieresicher und zugfest. – Sich dann auf die Granulat-Produktion zu beschränken, ist auch wirtschaftlich clever:
"Der Impact, den wir generieren können, ist natürlich unendlich viel größer, wenn wir uns nicht auf die Herstellung eines Produktes fokussieren, sondern darauf unser Material für möglichst viele Anwendungen nutzbar machen zu können. Dann kann man nämlich Strohhalme ersetzen, Pappbecher und andere Verpackungen, die eben nicht recycelbar sind, aus Traceless Material herstellen. Langfristig". -- Johanna Baare
Interessanterweise geht das Verfahren von Traceless auf die Anfänge der Kunststoffforschung zurück. Schon damals arbeitete man mit Polymeren aus der Natur. Wie Cellophan, was aus Zellulose hergestellt wird und heute noch als Folie bekannt ist. Doch irgendwann hat die Petrochemie die alten Technologien und Naturmaterialien vom Markt verdrängt. Denn nichts ist billiger als Kunststoff aus Erdöl zu produzieren. Und da liegt der Hase im Pfeffer:
"Wenn wir unser Material nicht ansprechend vermarkten und wenn wir das nicht auch zu einem Preis verkaufen können, der für den Markt interessant ist, dann wird es ein Nischenprodukt bleiben. Doch unsere Technologie hat eben auch das Potenzial, dass sie auf industriellem Produktionsmaßstab auch preislich wettbewerbsfähig ist". -- Johanna Baare
Dafür heißt es jetzt, die Produktion schnell hochzufahren, die Sache zu skalieren, um es mit dem Lieblingswort der Start-up Gemeinde zu benennen. Zudem braucht es konkrete Produkte, um für das Material werben zu können. Und die kommen, wie zum Beispiel nachhaltige Verpackungen für den E-Commerce des Versandhändlers Otto, oder Einweggeschirr für die Lufthansa. Das Material baut sich in bis zu vier Wochen biologisch ab. Das hilft dem Gewissen:
Anne Lamp & Johanna Baare im Podcast
"Unsere Lösung nimmt den Endverbraucher aus der Verantwortung. Denn er kann das Produkt eigentlich ganz genauso weiterverwenden, wie er das heute auch mit Plastik oder Bioplastik- Produkten tut. Er muss sein Verhalten nicht verändern, was ja viele Recycellösungen eigentlich vom Endverbraucher verlangen". -- Johanna Baare
Ein entscheidender Punkt, bedenkt man die 400 Millionen Tonnen Kunststoff, die weltweit jährlich produziert werden. Das hat fatale Folgen: Über 80 % aller jemals produzierten Kunststoffe befinden sich noch immer auf Mülldeponien oder schwimmen in unseren Ozeanen. – Plastik sollte einmal unser Leben erleichtern, aber im Lauf der letzten Jahrzehnte ist Kunststoff zum Fluch unserer Existenz geworden. Am Ende ist der Kapitalismus wohl nur mit seinen eigenen Waffen zu schlagen:
"Das ist auf jeden Fall schon mal ein signifikanter messbarer Impact, den wir generieren können, weil diese eine Million, die ist schon in dem Bereich, in der Dimension der Kunststoffe, die jährlich in die Meere gelangen und das sind 11 Millionen!" -- Anne Lamp
"Unser Ziel ist, dass wir bis 2030 eine Million Tonnen unseres Materials produzieren, dass wir große industrielle Anlagen haben, die Traceless Material im großen Stil produzieren. Und das natürlich langfristig auch nicht nur in Deutschland oder in Europa, sondern auf der ganzen Welt". -- Johanna Baare
Bäume sondern Harz aus, um Wunden in ihrer Rinde zu schließen. Jahrmillionen später ist es der Bernstein, der heilend wirken soll. – Wird die bernsteinfarbene Folie uns einmal vor der Verschmutzung erretten? Fest steht: geformte Naturpolymere haben einen bleibenden Wert. Darin, dass sie den Abfall abschaffen und als menschliche Artefakte wieder spurlos verschwinden.