Der Baubotaniker | Ferdinand Ludwig

Der Baubotaniker

Ferdinand Ludwig

Beruf:
Architekt und Professor für "Grüne Technologien"

Biopionier für:
Baubotanik und Landschaftsarchitektur

Ferdinand Ludwig - Porträt
Ferdinand Ludwig Zitat
Was mich fasziniert ist, dass wir plötzlich Architektur als etwas Lebendiges denken, als einen Prozess, als ein System, als Teil der Umwelt und nicht mehr als einen toten Klotz. Und damit kommen wir auch als Entwerfer in ganz neue Rollen hinein. Wir müssen plötzlich wie Gärtner denken.
Ferdinand Ludwig

Über das Tal der Waldach spannt sich ein imposanter Brückenbogen.

Das Viadukt gilt als Wahrzeichen von Nagold, einem schmucken Schwarzwald-Städtchen. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden die über zwanzig Meter hohen Rundbögen der Brücke noch aus massivem Beton errichtet. Es war eine steinerne Zeit.

Viadukt

Heute durchzieht das Tal ein Band landschaftsarchitektonisch gestalteter Flächen, die bis ans Viadukt heranreichen. Ein grünes Vermächtnis der Landesgartenschau, die 2012 hier ausgerichtet wurde. Ein Sonntagvormittag im Oktober. Mit federnden Schritten läuft Ferdinand Ludwig den Hang ins Tal hinunter, im schwarzen Hemd und bewaffnet mit einer Heckenschere. Sein Ziel: der Platanenkubus.

"Es ist immer unglaublich aufregend, weil's halt ein Lebewesen eigentlich ist, dass man länger nicht gesehen hat. Und man weiß nicht so ganz genau, wie es dem gerade geht, ob irgendwo was abgestorben ist, ob vielleicht auch irgendwelche Krankheiten aufgetreten sind. Und dann ist es erst mal eine große Freude, wenn man ankommt. Aha, es ist alles schön gewachsen. Es hat sich entwickelt, es ist größer, stabiler geworden".

Am Kubus geht der Blick weit nach oben entlang einer steil-grünen Wand aus unzähligen Blättern. Platanen sind mächtige Bäume, der bis zu 50 Meter in die Höhe wachsen. Für den Platanenkubus wird ihre Wuchskraft genutzt und gebändigt. Entlang eines luftigen Stahlgerüsts sind die Bäume in sechs Etagen übereinander gepflanzt und miteinander verbunden.

Platanenkubus
Der Platanenkubus von Nagold
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Illustration Platanenkubus

Was auf den ersten Blick eher spielerisch wirkt, dient der wissenschaftlichen Untersuchung von Entwurfsprinzipien, wo Technik und Natur miteinander verschmelzen und die Pflanzen den Takt für die Planung vorgeben.

Ferdinand Ludwig ist Professor für Grüne Technologien und Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität München (TUM). Dort erforscht er das Wachstum von Bäumen, um sie gezielt in Architekturkonstruktionen einzusetzen. Dafür werden Biege- und Bruchversuche mit Baumverbindungen gemacht oder 3D-Scans anatomischer Schnittproben. – „Baubotanik“ nennt er die vom ihm selbst geschaffene Disziplin:

"In der Baubotanik nutzen wir im Kern die Photosynthese und die darauf aufbauenden Wachstumsprozesse. Und das Spannende ist, dass wir diese unmittelbar in die Architektur einfließen lassen. Die Rechengrundlage für solcherart Bauwerke ist hochkomplex, weil die Geometrie auf organische Entwicklungsprozesse reagieren muss. Deshalb arbeiten wir interdisziplinär, vom Ingenieurswesen bis zur Ökologie. Unser Ziel ist es, die Botanik als Teil der Baukultur zu etablieren, als Baukultur im Freiraum, aber auch sehr stark in der gebauten Umwelt".

Mechanische Untersuchungen
Mechanische Belastungsversuche und anatomischer Querschnitt einer Verwachsung

Der 10x10x10 Meter große Platanenkubus ist ein leuchtend grünes Beispiel dafür: Das erste öffentliche Gebäude, was mithilfe der Pflanzenaddition gebaut wurde. Das Bild von der Addition hat Ferdinand vom Abakus übernommen, wo die Rechenkugeln in Reihen übereinander angeordnet, das Zusammenzählen erleichtern. Doch wie lassen sich Pflanzen addieren, so dass eine tragfähige Summe herauskommt?

Damit es so weit kommt, muss aus Hunderten von Bäumen ein „Hyperorganismus“ werden. Stämme und Äste müssen miteinander verwachsen über die Etagen des Kubus hinweg. Hier helfen die Forschenden der Natur auf die Sprünge, indem sie künstlich herstellen, was natürlich möglich ist:

Verwachsungen
Hybride Verwachsung und künstliche Astgabel

Ferdinand Ludwig im Video

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"Wir haben herausgefunden, dass es mit Schrauben am einfachsten geht. Für den Baum ist es eigentlich nur eine ganz kleine Verletzung, die sofort heilt und eine sehr verlässliche Verbindung darstellt und um die herum dann der Baum Schritt für Schritt gemeinsame Jahresringe entwickelt. Das Ergebnis kann man von einer natürlichen Astgabel, anatomisch vom Holz her, überhaupt nicht mehr unterscheiden".

Wenn sich die Baumstruktur in sich gefestigt hat, sollen die Stahlstützen nach und nach aus dem Kubus entnommen werden. Die Summenpflanze versorgt sich am Ende nur noch über die Baumstrukturen, die direkt im Boden wurzeln, während die Pflanzenkübel auf den Etagen darüber verzichtbar werden.

Hier und dort schneidet Ferdinand einen Zweig ab, um den Pflanzenwuchs zu lenken. Die Struktur darf nicht verwildern, sonst kann sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Noch wirkt das Nagolder Baumgebäude klein gegenüber dem Brückenriesen. Grün gegen grau, innovative Pflanzenarchitektur versus gebauten Beton. – Wo steht da die Baubotanik?

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Ferdinand Ludwig mit Heckenschere

"Ich versuche eigentlich einen ganz großen Spagat zu leben. Einerseits ist es eine unglaublich radikale Vision einer neu gedachten Architektur und Stadt, die zur Landschaft wird. Aber ich versuche auch immer, die Bodenhaftung dabei nicht zu verlieren und die Sachen eins zu eins zu machen und dann auch in die Anwendung zu bringen".

Die Container City auf dem Stuttgarter Bahngelände

Ein Ort für selbstgebaute Utopien und kreative Pioniere. Dreizehn Jahre hat Ferdinand hier gelebt und gearbeitet, um botanische Experimente durchzuführen, Pflanzen zu formen und ihr Wachstum zu bezirzen. Hier wie dort spielt das Umfeld die entscheidende Rolle: Licht und Wasser für die Pflanzen, Freiheit und Gemeinschaft für die Bewohner. Alles ist mit allem, jeder mit jedem verbunden.

Containercity in Stuttgart

Das gilt auch für die Bauarbeiter in ihren Wohncontainern. Vor der Haustür wächst ein Stadtacker mit seinen Früchten. Die Container haben ihrerseits begrünte Wände. Davor steht eine große Zisterne und ein mit Schilf bewachsener Bodenfilter. All dies ist Teil umfassender Forschung und Planung, erklärt der Baubotaniker:

"Wir zeigen hier ganz konkret, wie man mit Abwasser in Kombination mit einer lebenden Fassade zu einem besseren Stadtklima, aber auch zu einem besseren Wohlfühlen im Haus beitragen kann. Die Vertikalbegrünung kühlt das Gebäude und kann auch einen positiven Beitrag zur Biodiversität der Stadt leisten".

Impulsprojekt Wohncontainer
Impulsprojekt Stuttgart - Wohncontainer mit Vertikalbegrünung und Bodenfilter

Das Fassadengrün bezieht seine Bewässerung aus zwei Quellen: dem Dusch- und Waschwasser der Container, das über den Bodenfilter gereinigt wird, sowie dem gespeicherten Regenwasser der Zisterne. Auf diese Weise sind die Pflanzen auch bei Trockenheit kontinuierlich mit Wasser versorgt. Zugleich schont das den Trinkwasserverbrauch. Das Begrünungsprojekt soll neue Impulse liefern für die „Entwicklung Integrierter Strategien zur Stärkung urbaner blau-grüner Infrastrukturen“ (INTERESS-I). Und das haben die Städte bitter nötig: Im Zuge des Klimawandels stehen sie unter großem Stress:

"Im Moment haben wir eigentlich eine Diskrepanz zwischen Bauen oder Natur. Wir bebauen eine Fläche, dann ist sie weg und dann habe ich ein Gebäude, was Hitze speichert und Hitze reflektiert. Auch die Versiegelung ist ein Problem. Wir haben immer mehr Abwasser, das die Kanäle überfüllt. Das ist eigentlich ein Teufelskreis, den man durchbrechen muss".

Zisterne und Gruppe Impulsprojekt
Retentionszisterne und Gruppe Impulsprojekt

Ferdinand hält sein Handy vor die Fassade. Auf dem Bildschirm tauchen farbige Flächen und Flecken auf, welche die Kamera via Infrarot-App erzeugt. Warnend leuchtet es in orange-gelb, wo die nackten Metallwände sich schnell aufheizen. Hängt jedoch der grüne Pflanzenteppich darüber, erscheint das Wärmebild in blau-grüner Farbe. Der Temperaturunterschied beträgt um die zehn Grad!

Der Clou des Systems: Es lässt sich auf bereits bestehende und, wie im Fall der Baucontainer, temporäre Bauten anwenden.  Auch bei zukünftigen Bauvorhaben, wie dem Stuttgarter Rosensteinquartier, sollen blau-grüne Infrastrukturen umgesetzt werden.

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Ferdinand Ludwig im Podcast

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Zukunftsstadt

Die Baubotanik verfolgt eine Bioökonomie eigener Prägung: Sie ist ökonomisch, weil sie hilft Ressourcen wie Trinkwasser und Energie zu sparen. Sie ist biologisch, weil sie mit Lebewesen arbeitet. Der Baum hat eine andere Qualität als das Holz als nachwachsender Roh- und Baustoff. Er wird zum integralen Bestandteil der Konstruktion, zum Mitbewohner mit eigenen Bedürfnissen und Vorzügen.

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Baumdach

Das Bauen mit Bäumen ist Slow Architecture auf organischem Fundament. Es ist nachhaltig, weil es uns den Rhythmus der Natur vergegenwärtigt und die Endlichkeit aller natürlicher Ressourcen. Es ist radikal, weil es unser Verhältnis zur Natur vom Kopf auf die Füße stellt.

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Ferdinand Ludwig im Grünen

"Meine Vision ist, dass Städte eigentlich zu Wäldern werden, dass wir Häuser haben, die als Bäume funktionieren und viele dieser Häuser zusammen dann einen urbanen Wald bilden, in dem man auf vielfältige Art leben kann, in dem wir als Menschen leben, aber auch viele andere Pflanzen und Tierarten ihr Zuhause haben".